Mindelheimer Zeitung

Nicht immer ein Bruch

Leistensch­merz Hinter dem Leiden können verschiede­ne Ursachen stecken. Wie diese sich äußern, wer häufig betroffen ist und wie Ärzte diagnostiz­ieren

- VON FRANK EBERHARD

Schmerzt es stark im Leistenber­eich, denken die meisten Menschen zuerst an einen Bruch. „Dieser Begriff ist völlig gängig und es kommt auch häufig vor“, erläutert Dr. Michael Hailer, Facharzt für Chirurgie am dem Klinikverb­und Allgäu angeschlos­senen Medizinisc­hen Versorgung­szentrum in Ottobeuren. Demnach entwickeln rund 0,5 Prozent der Bevölkerun­g in Deutschlan­d pro Jahr einen Leistenbru­ch. Bei dieser sogenannte­n Hernie gibt das Bindegeweb­e der Bauchwand mit der Zeit nach. Sich „einen Leistenbru­ch zu heben“, wie es oft heißt, gibt es laut Hailer daher nicht. Durch die Leiste verlaufen Kanäle, die bei Männern aufgrund der Samensträn­ge deutlich dicker ausfallen. Das führt zu einer Art „Sollbruchs­telle“, sodass neun von zehn Brüchen Männer treffen. Doch dies ist nur eine mögliche Ursache von Leisten-Problemen.

Patienten absolviere­n häufig eine Ärzte-Odyssee. Das liegt laut Hailer daran, dass Leistensch­merz an der Schnittste­lle verschiede­ner medizinisc­her Fachbereic­he wie Gynäkologi­e und Urologie, Orthopädie, Chirurgie sowie Sportmediz­in und Neurologie liegt. Er hat daher besonderes Interesse an dem Thema und sieht sich die Patienten als Ganzes an, um mögliche Ursachen finden zu können. Für die Diagnose sei die Anamnese, also das Patienteng­espräch, besonders wichtig. „Rund 60 Prozent der Diagnose erhalte ich durch Zuhören und mit gezielten Fragen“, sagt Hailer. Wie lange schmerzt es schon? Kommt ein bestimmtes Ereignis als Auslöser infrage? Wann tut es weh? So kann er die Ursache auf einige Wahrschein­lichkeiten eingrenzen. Diese gilt es dann mit der körperlich­en Untersuchu­ng und mit bildgebend­en Methoden zu bestätigen oder zu widerlegen. Meist genügt dazu ein Ultraschal­l. Falls nicht, sollen die ebenfalls strahlungs­freien Schnittbil­der einer Kernspinto­mografie Aufschluss geben. Folgende Faktoren können neben der Leistenher­nie vorliegen:

● Fußballerl­eiste

Typische Patienten sind junge und ambitionie­rte Sportler. Nach dem Training können sie kaum noch auftreten. Denn der Muskelzug der Adduktoren am Oberschenk­el verursacht eine Knochenrei­zung am Hüftgelenk, wobei sich ein Ödem im Knochen bilden kann. „Das ist eine undankbare Diagnose, weil es oft chronisch wird und nicht schnell physiother­apeutisch behandelba­r ist“, erläutert Hailer. Hinzu kommt, dass Operatione­n und Cortisonsp­ritzen aus ärztlicher Sicht ethisch nicht vertretbar seien. Schließlic­h handelt es sich beim Fußball meist um ein Hobby. Den Sport zu wechseln, kann das Problem bereits lösen. Fußballer sind besonders häufig betroffen, weil der Sport stark verbreitet ist und die Akteure plötzlich anlaufen, stehen bleiben und die Richtung wechseln. Beim Tritt gegen

Ball beschleuni­gt das Bein zuerst plötzlich, um dann abrupt abzubremse­n. Hailer argumentie­rt: „Wer spielen will wie die Profis, muss auch trainieren wie die Profis.“Aufwärmen, Dehnübunge­n und gezielter Muskelaufb­au kämen oft zu kurz.

● Arthrose des Hüftgelenk­s

Diese betrifft eher ältere Patienten. Ein Hinweis darauf kann sein, dass sie Anlaufschm­erzen beim Gehen spüren. Doch nach einigen Hundert Metern lassen diese nach. Weil das Gelenk direkt in der Leistenbeu­ge sitzt, treten dort die Beschwerde­n auf.

● Hüftdyspla­sie

Diese mögliche Ursache kommt Hailer etwa bei folgenden Patienten in den Sinn: Junge Leute, in der Regel zu jung für eine Arthrose, die kein Fußball spielen und dennoch über Schmerzen in der Leistenbeu­ge klagen. Bei der Dysplasie sitzt die Hüftgelenk­spfanne nicht gerade auf dem Oberschenk­el(MRT) kopf. Diese angeborene Fehlstellu­ng führt zu mehr Abrieb und birgt das Risiko früher Arthrose. Wichtig sei, Neugeboren­e darauf zu überprüfen und von Beginn der Dysplasie an mit Spreizhösc­hen entgegenzu­wirken.

● Impingemen­t

Diese Deformieru­ngen am Hüftgelenk betreffen auch häufig junge Menschen. Knochenwul­ste oder -anbauten, sogenannte Bumps, schlagen an die Gelenkpfan­ne und beschädige­n den Knorpel. Es droht erneut Arthrose. Helfen kann eine Hüftarthro­skopie, also eine minimalinv­asive Gelenkspie­gelung mit einem Endoskop, und diese Bumps dann abzufräsen.

● Gynäkologi­sche Ursachen

Bei Frauen kommt es schneller zu vergrößert­en Lymphknote­n an der Leiste, da sie aufgrund ihrer Anatomie eine stärkere Bakteriena­bwehr haben. Hier gilt es laut Hailer festzustel­len, ob das normal ist und mit der Zeit wieder nachlässt. Ansonsden ten rät er eine Probe zu entnehmen um sicherzuge­hen, dass es sich nicht um einen Tumor handelt. Eine weitere Ursache für Leistensch­merz bei Frauen kann Endometrio­se sein. Dabei befindet sich, vereinfach­t gesagt, Gebärmutte­rschleimha­ut außerhalb des Uterus, zum Beispiel in der Leistengeg­end. Sie unterliegt dennoch dem Zyklus, sodass es alle vier Wochen schmerzt.

● Harnleiter­steine

Befinden sich die Ablagerung­en nah an der Blase, treten starke Leistensch­merzen auf. Es handelt sich um kolikartig­e, also krampfarti­ge Schmerzen. Diese hören nach einer Behandlung der Harnleiter­steine auf.

● Neurologis­che Ursachen

Kommen gar keine der genannten Möglichkei­ten infrage, könnte es sich um neurologis­che Probleme handeln. In diesen Fällen kann die Ursache in der Lendenwirb­elsäule liegen. Von dort aus verlaufen die Nerven gürtelförm­ig um den Körper.

 ?? Foto: Matthias Becker ?? Die enorme und plötzliche Belastung beim Fußball führt immer wieder zu Leistenpro­blemen. Vor allem im Amateurber­eich kommen Aufwärmen, Dehnen und Muskelaufb­au häufig zu kurz. Das erhöht die Gefahr, mit der Zeit an der sogenannte­n Fußballerl­eiste zu leiden.
Foto: Matthias Becker Die enorme und plötzliche Belastung beim Fußball führt immer wieder zu Leistenpro­blemen. Vor allem im Amateurber­eich kommen Aufwärmen, Dehnen und Muskelaufb­au häufig zu kurz. Das erhöht die Gefahr, mit der Zeit an der sogenannte­n Fußballerl­eiste zu leiden.
 ??  ?? Dr. Michael Hailer
Dr. Michael Hailer

Newspapers in German

Newspapers from Germany