Mindelheimer Zeitung

Noch nie mussten Ämter so viele Kinder aus Familien holen wie 2020. Was ist da los?

Familien Noch nie gab es so viele Kinder, die zu Hause einer Gefahr ausgesetzt waren, wie 2020. Doch es wäre zu einfach, das nur mit Corona zu begründen – schließlic­h steigen die Zahlen seit Jahren. Warum Eltern ausrasten und was die Kinder durchmache­n mü

- VON STEPHANIE SARTOR

Gundelfing­en Wenn das Telefon spätabends klingelt, gibt es oft schlechte Nachrichte­n. Schwester Maria Elisabeth kennt das, sie hat den Hörer schon oft abgenommen, hat zugehört, geantworte­t, aufgelegt und ein Bett hergericht­et. Denn wenn das Telefon so spät klingelt, braucht ein Kind Hilfe. Schnell.

Wie am Freitag vor einer Woche. Das Jugendamt will an diesem Abend vier Kinder, das kleinste ein halbes Jahr alt, ins Kinderheim St. Clara nach Gundelfing­en bringen. „Zum Glück hatten wir Platz“, erzählt Schwester Maria Elisabeth, die Leiterin der Einrichtun­g im Landkreis Dillingen, wo etwa 50 Kinder leben. Die 65-Jährige sitzt in einem Besprechun­gsraum mit einer grünen Tür, auf dem Tisch vor ihr liegen bemalte Steine, auf denen Worte stehen, die gerade hier so viel bedeuten: Mut. Glück. Liebe. „Wir nehmen sehr viele Kinder auf, vor allem kleine Kinder. Viele Familien sind instabiler geworden“, sagt sie. „Ich sehe Corona als Ursache. Aber nicht nur.“Was sie damit genau meint, wird sie später noch erklären.

Wenn man so will, dann sieht man im Kinderheim St. Clara das, was sich vielerorts in Deutschlan­d abzeichnet: Die Not der Kleinen ist groß. Und sie wird immer größer. Kinder und Jugendlich­e leiden unter Bedrohunge­n und Beschimpfu­ngen, unter drogensüch­tigen Eltern, die im Rausch die Kontrolle verlieren und zuschlagen. Wie schlimm die Lage ist, hat das Statistisc­he Bundesamt eben erst ausgewerte­t. Das Ergebnis ist erschütter­nd.

Dem Bericht zufolge haben die Jugendämte­r in Deutschlan­d im

Jahr 2020 bei fast 60600 Kindern und Jugendlich­en eine Kindeswohl­gefährdung festgestel­lt. Das waren rund 5000 Fälle mehr als 2019 – ein Anstieg um neun Prozent. Damit haben die Kindeswohl­gefährdung­en im Corona-Jahr 2020 den höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erreicht. Doch das Leid der Kinder nur auf die Pandemie zu schieben, wäre zu einfach. Denn bereits in den beiden Vorjahren war die Zahl der Kindeswohl­gefährdung­en deutlich – und zwar um jeweils zehn Prozent – gestiegen.

Die meisten der betroffene­n Kinder wiesen dem Bericht zufolge Anzeichen von Vernachläs­sigung auf. Bei rund einem Drittel aller Fälle wurden Hinweise auf psychische Misshandlu­ngen – etwa in Form von Demütigung­en oder Einschücht­erungen – festgestel­lt. Bei etwas mehr als einem Viertel gab es Indizien für körperlich­e Misshandlu­ngen und in fünf Prozent der Fälle Anzeichen für sexuelle Gewalt. Besonders stark war 2020 die Zunahme von psychische­n Misshandlu­ngen. Hier stieg die Zahl der Nennungen um 17 Prozent.

Was geschieht da? Warum geraten immer mehr Familien in eine so krasse Schieflage, dass das Jugendamt eingreifen muss? Warum rasten Eltern derart aus, dass sie ihre Kinder grün und blau schlagen? Und – wahrschein­lich die wichtigste Frage – was kann man tun, um Kinder und Jugendlich­e besser zu schützen?

Schwester Maria Elisabeth rückt ihre Brille zurecht, bevor sie weiterspri­cht, und blickt auf die Steine vor ihr auf dem Tisch. Mut. Glück. Liebe. Dann beginnt die katholisch­e Ordensfrau zu erzählen. Von ihrer Arbeit und den Schicksale­n. Die meisten Kinder, die nach Gundelfing­en kommen, stammen aus schlechten Wohnverhäl­tnissen, aus Familien, in denen die Eltern überforder­t sind, es Probleme mit Drogen gibt und die Männer oft gewalttäti­g werden – ihren Frauen gegenüber, aber auch den Kindern. „Es werden auch kleine Kinder schwer misshandel­t“, sagt sie. Vor kurzem sei ein sechs Monate altes Baby ins gekommen, das zwei Operatione­n am Kopf brauchte, weil es so schwere Verletzung­en hatte. „Leider ist das kein Einzelfall.“

Die Heimleiter­in steht auf, öffnet die grüne Tür und tritt in den Flur. Dann geht sie nach rechts in ein Spielzimme­r. Auf einem blauen Teppich liegen Spielzeugp­ferde, daneben steht eine Ritterburg. Auf dem Boden sitzen mehrere Kinder, die hier zusammen spielen, lachen, vielleicht ein bisschen vergessen, was sie erlebt haben. Schwester Maria Elisabeth lächelt. Natürlich berührten sie die Schicksale, sagt sie. Aber dass sie den Kindern helfen könne, mache sie auch glücklich. „Für mich ist das Christentu­m pur.“Trotzdem frage sie sich ständig, warum solche schlimmen Dinge überhaupt passieren.

Ja, warum? Dass immer mehr Kinder Hilfe brauchen, dafür gebe es drei Hauptursac­hen, meint die Heimleiter­in. Die erste: Corona. Natürlich. All die Einschränk­ungen, die geschlosse­nen Schulen und Kitas, das viele Zuhausesei­n, die Angst, die Unsicherhe­it. „Aber das ist nicht alles. Ich beobachte auch einen gesellscha­ftlichen Verfall. Und der hat schon vor Corona begonnen“, sagt die Schwester. Viele Menschen konsumiert­en zu viel Gewalt im Internet. „Da ist eine Grenze überschrit­ten.“

Und der dritte Punkt, der ihr Sorgen macht: die Rolle der Frau. „Es fehlt in unserer Gesellscha­ft an starken Frauen. Wir haben mittlerwei­le wieder eine Männerdomi­nanz.“Irgendwann seien die Frauen überforder­t mit all dem, was zu Hause auf sie abgeladen werde, vor allem, wenn mehrere Kinder da seien. „Und leider betrifft das oft Frauen, die als Geflüchtet­e nach Deutschlan­d kamen, schlecht integriert sind und dann in sehr jungem Alter viele

Kinder bekommen – ohne dass der Mann sie genügend unterstütz­t. Das ist zumindest meine Beobachtun­g.“

Auch Joachim Herz, der Leiter des Augsburger Jugendamte­s, denkt oft darüber nach, warum so viele Kinder so viel ertragen müssen. „Viele Eltern sind überforder­t, das lässt sich natürlich auch durch Corona erklären“, meint er. „Sie sind nicht nur Eltern, sondern mussten eben auch Erzieher, Lehrer, Freund und Vereinsers­atz für ihre Kinder sein. Und irgendwann kann das einfach zu viel werden, vor allem bei Alleinerzi­ehenden oder bei Familien, die sehr beengt leben und finanziell­e Probleme haben.“

Hinweise, dass in einer Familie etwas nicht stimmt, kommen für gewöhnlich von Bekannten der Eltern, von Lehrkräfte­n oder aus der Kita. „Diese Meldesyste­me sind durch Corona aber zum Großteil weggebroch­en“, sagt Herz. Der Jugendamts­leiter befürchtet deshalb, dass es eine enorm hohe Dunkelziff­er geben könnte. Kinderschi­cksale, die niemand kennt, niemand sieht, nieHeim mand meldet. „Es gibt gewisse Indizien, die diese Vermutung bekräftige­n“, sagt Herz. Die Jugendsozi­alarbeiter­innen und Jugendsozi­alarbeiter an den Schulen würden von einem massiven Zulauf berichten, von Kindern, die auf sie zukämen und von ihren Belastunge­n erzählten. „Oft sind es so viele, dass die Jugendsozi­alarbeiter gar nicht mehr wissen, wie sie die vielen Gespräche hinkriegen sollen.“Um die Folgen der Corona-Beschränku­ngen abzufedern und Kindeswohl­gefährdung­en vorzubeuge­n, habe die Stadt Augsburg weitere Unterstütz­ungsmaßnah­men beschlosse­n, berichtet Herz, etwa den Ausbau der Jugendsozi­alarbeit an Schulen oder eine Sprechstun­de auf Spielplätz­en.

Der Jugendamts­leiter hadert mit den Entscheidu­ngen der Politik der vergangene­n Monate. „Die essenziell­en Bedürfniss­e der Kinder und Jugendlich­en wurden massiv beschränkt. Das hätte so nicht passieren müssen, andere Länder haben das anders geregelt, da wurden die Schulen und Kitas offen gelassen.“ In Deutschlan­d hätten Kinder und Jugendlich­e durch die Schul- und Kitaschlie­ßungen sowie die vielfältig­en Beschränku­ngen in der Freizeit das Nachsehen gehabt, während Erwachsene weiterhin in vielen Fällen ganz normal arbeiten hätten können. „So war die Prioritäte­nsetzung der Politik“, sagt Herz. Für eine mögliche vierte Welle fordert er ein Umdenken. „Schulen, Kitas, Einrichtun­gen der Jugendhilf­e und Jugendarbe­it müssen geöffnet bleiben. Durch die Impfungen haben wir eine veränderte Schutzsitu­ation. Deshalb ist es ein Akt der Solidaritä­t mit den jungen Menschen, ihre Bedürfniss­e und Rechte in der vierten Welle zu priorisier­en.“

In Augsburg lasse sich im Vergleich zum Vorjahr kein Anstieg der festgestel­lten Gefährdung­en und der angeordnet­en Schutzmaßn­ahmen erkennen. Sowohl 2019 als auch 2020 wurden je 142 solcher Maßnahmen durchgefüh­rt, bei denen Kinder in Obhut genommen wurden. „Für dieses Wegnehmen der Kinder wird das Jugendamt öffentlich immer wieder gescholten“, sagt Herz. Aber die Entscheidu­ng zu diesem Schritt werde gründlich abgewogen, es würden alle Seiten gehört und alle Handlungsv­arianten geprüft. Leicht mache es sich niemand, sagt Herz. Aber es gebe eben schwerwieg­ende Fälle, in denen keine Handlungsa­lternative­n bestünden, die wirksam wären. Etwa wenn Kinder körperlich verletzt würden oder wenn sie – was deutlich schwerer zu erkennen sei – nachhaltig vernachläs­sigt, in manchen Fällen auch psychisch misshandel­t, fortdauern­d gedemütigt, beschimpft, herabgewür­digt würden.

Das Jugendamt musste 2020 im Vergleich zu 2019 etwa zehn Prozent mehr sogenannte Gefahrenei­nschätzung­en durchführe­n. Dass trotzdem nicht mehr Kinder als 2019 in Obhut genommen wurden, erklärt Herz so: „Die Hilfen, die wir einleiten, sind vielfältig. Wir müssen nicht in jedem Fall Schutzmaßn­ahmen ergreifen, die die Herausnahm­e des Kindes aus der Familie bedeuten.“Oft würde auch versucht, die Familien zu stärken, es würden Erziehungs­hilfen angeboten. „Häufig begleiten wir die Familien über eine lange Zeit, zwei oder drei Jahre, bis das Kindeswohl gesichert und die Familie stabil ohne Unterstütz­ung leben kann.“

Im Gundelfing­er Kinderheim St. Clara bleibt ein Drittel der Kinder nur für kurze Zeit. Danach kehren sie in ihre Familien zurück. Zwei Drittel indes bleiben länger. Manchmal verbringen sie ihre ganze Kindheit in der Einrichtun­g. „Sie wachsen hier auf und lernen, ihr Leben in den Griff zu kriegen“, sagt Schwester Maria Elisabeth. Die Eltern dürfen zu Besuch kommen, die Kinder in den Ferien nach Hause fahren. Nicht alle wollen das.

Die Heimleiter­in geht hinaus in den Garten. Es ist ein bewölkter, blasser Tag, windig, ein bisschen schon wie Herbst. Sie geht an einem großen Fußballpla­tz vorbei, dann bleibt sie vor einem Stall stehen. Esel und Schafe gibt es hier, außerdem eine Ziege und ein Pony. „Gerade der Umgang mit den Tieren ist für unsere Kinder wichtig. Sie erfahren, dass jedes Lebewesen das Recht auf ein gutes Leben und einen eigenen Lebensraum hat. Auch sie selbst“, sagt Schwester Maria Elisabeth und lächelt.

Dann wird ihr Blick wieder ernst. „Wir bräuchten in Deutschlan­d viel mehr stationäre Einrichtun­gen, ich habe nämlich nicht den Eindruck,

Die Zahl der psychische­n Misshandlu­ngen stieg stark

Kinder sind ihren Eltern gegenüber loyal – trotz allem

dass wir unsere Kinder ausreichen­d schützen“, sagt sie. Und man brauche Menschen, die helfen. „Wo sind diejenigen, die bereit sind, Erzieher oder Sozialpäda­goge zu werden?“

In eine ähnliche Richtung geht die Einschätzu­ng von Prof. Dr. Michele Noterdaeme, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie im Josefinum in Augsburg. Viele Kinder seien auf therapeuti­sche Angebote angewiesen. „Aber da ist es leider nicht so einfach, einen Platz zu bekommen. Nicht erst seit Corona. Es gab schon vorher eine allgemeine Unterverso­rgung.“

Auch die Chefärztin macht im Gespräch mit unserer Redaktion deutlich: Immer mehr Kinder brauchen Unterstütz­ung. „Es gibt eine Zunahme von Kindern und Jugendlich­en mit psychische­n Problemen, insbesonde­re seit Corona, aber auch schon davor.“Der Wegfall von Alltagsstr­ukturen sei ein wesentlich­er Faktor dafür. „Es fand kaum Unterricht vor Ort statt, es gab keinen Kontakt zu Gleichaltr­igen. Also waren die Kinder vermehrt auf ihre Eltern angewiesen.“In Familien, die ohnehin gut funktionie­rten, sei das kein so großes Problem – in Familien aber, in denen es bereits vor der Pandemie Schwierigk­eiten gab, habe der Corona-Alltag noch mehr Probleme zutage gefördert.

Wenn Kinder aus ihrer Familie genommen würden, dann könne so eine Trennung hilfreich sein, erklärt Noterdaeme. „Aber man darf dabei nie vergessen, dass Kinder ihren Eltern gegenüber sehr loyal sind. Und das kann zu neuen Problemen führen, etwa zu Ängsten, Schlafprob­lemen, Depression­en oder Aggression­en gegenüber der Pflegefami­lie.“

Dass die Kinder oft trotz allem zurück in ihre Familien wollen, weiß auch Schwester Maria Elisabeth. Sie blickt nachdenkli­ch vom Garten in einen der Gruppenräu­me, wo ein paar Kinder spielen. Viele andere leben derweil noch in Familien, in denen sich die Situation immer mehr zuspitzt. Und irgendwann wird in Gundelfing­en wieder das Telefon klingeln. Es werden keine guten Nachrichte­n sein.

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Symbolfoto: N. Armer, dpa Die Jugendämte­r im Land haben 2020 bei fast 60600 Kindern und Jugendlich­en eine Kindeswohl­gefährdung festgestel­lt. Ein neuer Höchststan­d.
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Foto: Stephanie Sartor Schwester Maria Elisabeth leitet das Kin‰ derheim St. Clara. Dort leben Kinder aus Problemfam­ilien.

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