Noch nie mussten Ämter so viele Kinder aus Familien holen wie 2020. Was ist da los?
Familien Noch nie gab es so viele Kinder, die zu Hause einer Gefahr ausgesetzt waren, wie 2020. Doch es wäre zu einfach, das nur mit Corona zu begründen – schließlich steigen die Zahlen seit Jahren. Warum Eltern ausrasten und was die Kinder durchmachen mü
Gundelfingen Wenn das Telefon spätabends klingelt, gibt es oft schlechte Nachrichten. Schwester Maria Elisabeth kennt das, sie hat den Hörer schon oft abgenommen, hat zugehört, geantwortet, aufgelegt und ein Bett hergerichtet. Denn wenn das Telefon so spät klingelt, braucht ein Kind Hilfe. Schnell.
Wie am Freitag vor einer Woche. Das Jugendamt will an diesem Abend vier Kinder, das kleinste ein halbes Jahr alt, ins Kinderheim St. Clara nach Gundelfingen bringen. „Zum Glück hatten wir Platz“, erzählt Schwester Maria Elisabeth, die Leiterin der Einrichtung im Landkreis Dillingen, wo etwa 50 Kinder leben. Die 65-Jährige sitzt in einem Besprechungsraum mit einer grünen Tür, auf dem Tisch vor ihr liegen bemalte Steine, auf denen Worte stehen, die gerade hier so viel bedeuten: Mut. Glück. Liebe. „Wir nehmen sehr viele Kinder auf, vor allem kleine Kinder. Viele Familien sind instabiler geworden“, sagt sie. „Ich sehe Corona als Ursache. Aber nicht nur.“Was sie damit genau meint, wird sie später noch erklären.
Wenn man so will, dann sieht man im Kinderheim St. Clara das, was sich vielerorts in Deutschland abzeichnet: Die Not der Kleinen ist groß. Und sie wird immer größer. Kinder und Jugendliche leiden unter Bedrohungen und Beschimpfungen, unter drogensüchtigen Eltern, die im Rausch die Kontrolle verlieren und zuschlagen. Wie schlimm die Lage ist, hat das Statistische Bundesamt eben erst ausgewertet. Das Ergebnis ist erschütternd.
Dem Bericht zufolge haben die Jugendämter in Deutschland im
Jahr 2020 bei fast 60600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren rund 5000 Fälle mehr als 2019 – ein Anstieg um neun Prozent. Damit haben die Kindeswohlgefährdungen im Corona-Jahr 2020 den höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erreicht. Doch das Leid der Kinder nur auf die Pandemie zu schieben, wäre zu einfach. Denn bereits in den beiden Vorjahren war die Zahl der Kindeswohlgefährdungen deutlich – und zwar um jeweils zehn Prozent – gestiegen.
Die meisten der betroffenen Kinder wiesen dem Bericht zufolge Anzeichen von Vernachlässigung auf. Bei rund einem Drittel aller Fälle wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen – etwa in Form von Demütigungen oder Einschüchterungen – festgestellt. Bei etwas mehr als einem Viertel gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent der Fälle Anzeichen für sexuelle Gewalt. Besonders stark war 2020 die Zunahme von psychischen Misshandlungen. Hier stieg die Zahl der Nennungen um 17 Prozent.
Was geschieht da? Warum geraten immer mehr Familien in eine so krasse Schieflage, dass das Jugendamt eingreifen muss? Warum rasten Eltern derart aus, dass sie ihre Kinder grün und blau schlagen? Und – wahrscheinlich die wichtigste Frage – was kann man tun, um Kinder und Jugendliche besser zu schützen?
Schwester Maria Elisabeth rückt ihre Brille zurecht, bevor sie weiterspricht, und blickt auf die Steine vor ihr auf dem Tisch. Mut. Glück. Liebe. Dann beginnt die katholische Ordensfrau zu erzählen. Von ihrer Arbeit und den Schicksalen. Die meisten Kinder, die nach Gundelfingen kommen, stammen aus schlechten Wohnverhältnissen, aus Familien, in denen die Eltern überfordert sind, es Probleme mit Drogen gibt und die Männer oft gewalttätig werden – ihren Frauen gegenüber, aber auch den Kindern. „Es werden auch kleine Kinder schwer misshandelt“, sagt sie. Vor kurzem sei ein sechs Monate altes Baby ins gekommen, das zwei Operationen am Kopf brauchte, weil es so schwere Verletzungen hatte. „Leider ist das kein Einzelfall.“
Die Heimleiterin steht auf, öffnet die grüne Tür und tritt in den Flur. Dann geht sie nach rechts in ein Spielzimmer. Auf einem blauen Teppich liegen Spielzeugpferde, daneben steht eine Ritterburg. Auf dem Boden sitzen mehrere Kinder, die hier zusammen spielen, lachen, vielleicht ein bisschen vergessen, was sie erlebt haben. Schwester Maria Elisabeth lächelt. Natürlich berührten sie die Schicksale, sagt sie. Aber dass sie den Kindern helfen könne, mache sie auch glücklich. „Für mich ist das Christentum pur.“Trotzdem frage sie sich ständig, warum solche schlimmen Dinge überhaupt passieren.
Ja, warum? Dass immer mehr Kinder Hilfe brauchen, dafür gebe es drei Hauptursachen, meint die Heimleiterin. Die erste: Corona. Natürlich. All die Einschränkungen, die geschlossenen Schulen und Kitas, das viele Zuhausesein, die Angst, die Unsicherheit. „Aber das ist nicht alles. Ich beobachte auch einen gesellschaftlichen Verfall. Und der hat schon vor Corona begonnen“, sagt die Schwester. Viele Menschen konsumierten zu viel Gewalt im Internet. „Da ist eine Grenze überschritten.“
Und der dritte Punkt, der ihr Sorgen macht: die Rolle der Frau. „Es fehlt in unserer Gesellschaft an starken Frauen. Wir haben mittlerweile wieder eine Männerdominanz.“Irgendwann seien die Frauen überfordert mit all dem, was zu Hause auf sie abgeladen werde, vor allem, wenn mehrere Kinder da seien. „Und leider betrifft das oft Frauen, die als Geflüchtete nach Deutschland kamen, schlecht integriert sind und dann in sehr jungem Alter viele
Kinder bekommen – ohne dass der Mann sie genügend unterstützt. Das ist zumindest meine Beobachtung.“
Auch Joachim Herz, der Leiter des Augsburger Jugendamtes, denkt oft darüber nach, warum so viele Kinder so viel ertragen müssen. „Viele Eltern sind überfordert, das lässt sich natürlich auch durch Corona erklären“, meint er. „Sie sind nicht nur Eltern, sondern mussten eben auch Erzieher, Lehrer, Freund und Vereinsersatz für ihre Kinder sein. Und irgendwann kann das einfach zu viel werden, vor allem bei Alleinerziehenden oder bei Familien, die sehr beengt leben und finanzielle Probleme haben.“
Hinweise, dass in einer Familie etwas nicht stimmt, kommen für gewöhnlich von Bekannten der Eltern, von Lehrkräften oder aus der Kita. „Diese Meldesysteme sind durch Corona aber zum Großteil weggebrochen“, sagt Herz. Der Jugendamtsleiter befürchtet deshalb, dass es eine enorm hohe Dunkelziffer geben könnte. Kinderschicksale, die niemand kennt, niemand sieht, nieHeim mand meldet. „Es gibt gewisse Indizien, die diese Vermutung bekräftigen“, sagt Herz. Die Jugendsozialarbeiterinnen und Jugendsozialarbeiter an den Schulen würden von einem massiven Zulauf berichten, von Kindern, die auf sie zukämen und von ihren Belastungen erzählten. „Oft sind es so viele, dass die Jugendsozialarbeiter gar nicht mehr wissen, wie sie die vielen Gespräche hinkriegen sollen.“Um die Folgen der Corona-Beschränkungen abzufedern und Kindeswohlgefährdungen vorzubeugen, habe die Stadt Augsburg weitere Unterstützungsmaßnahmen beschlossen, berichtet Herz, etwa den Ausbau der Jugendsozialarbeit an Schulen oder eine Sprechstunde auf Spielplätzen.
Der Jugendamtsleiter hadert mit den Entscheidungen der Politik der vergangenen Monate. „Die essenziellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen wurden massiv beschränkt. Das hätte so nicht passieren müssen, andere Länder haben das anders geregelt, da wurden die Schulen und Kitas offen gelassen.“ In Deutschland hätten Kinder und Jugendliche durch die Schul- und Kitaschließungen sowie die vielfältigen Beschränkungen in der Freizeit das Nachsehen gehabt, während Erwachsene weiterhin in vielen Fällen ganz normal arbeiten hätten können. „So war die Prioritätensetzung der Politik“, sagt Herz. Für eine mögliche vierte Welle fordert er ein Umdenken. „Schulen, Kitas, Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendarbeit müssen geöffnet bleiben. Durch die Impfungen haben wir eine veränderte Schutzsituation. Deshalb ist es ein Akt der Solidarität mit den jungen Menschen, ihre Bedürfnisse und Rechte in der vierten Welle zu priorisieren.“
In Augsburg lasse sich im Vergleich zum Vorjahr kein Anstieg der festgestellten Gefährdungen und der angeordneten Schutzmaßnahmen erkennen. Sowohl 2019 als auch 2020 wurden je 142 solcher Maßnahmen durchgeführt, bei denen Kinder in Obhut genommen wurden. „Für dieses Wegnehmen der Kinder wird das Jugendamt öffentlich immer wieder gescholten“, sagt Herz. Aber die Entscheidung zu diesem Schritt werde gründlich abgewogen, es würden alle Seiten gehört und alle Handlungsvarianten geprüft. Leicht mache es sich niemand, sagt Herz. Aber es gebe eben schwerwiegende Fälle, in denen keine Handlungsalternativen bestünden, die wirksam wären. Etwa wenn Kinder körperlich verletzt würden oder wenn sie – was deutlich schwerer zu erkennen sei – nachhaltig vernachlässigt, in manchen Fällen auch psychisch misshandelt, fortdauernd gedemütigt, beschimpft, herabgewürdigt würden.
Das Jugendamt musste 2020 im Vergleich zu 2019 etwa zehn Prozent mehr sogenannte Gefahreneinschätzungen durchführen. Dass trotzdem nicht mehr Kinder als 2019 in Obhut genommen wurden, erklärt Herz so: „Die Hilfen, die wir einleiten, sind vielfältig. Wir müssen nicht in jedem Fall Schutzmaßnahmen ergreifen, die die Herausnahme des Kindes aus der Familie bedeuten.“Oft würde auch versucht, die Familien zu stärken, es würden Erziehungshilfen angeboten. „Häufig begleiten wir die Familien über eine lange Zeit, zwei oder drei Jahre, bis das Kindeswohl gesichert und die Familie stabil ohne Unterstützung leben kann.“
Im Gundelfinger Kinderheim St. Clara bleibt ein Drittel der Kinder nur für kurze Zeit. Danach kehren sie in ihre Familien zurück. Zwei Drittel indes bleiben länger. Manchmal verbringen sie ihre ganze Kindheit in der Einrichtung. „Sie wachsen hier auf und lernen, ihr Leben in den Griff zu kriegen“, sagt Schwester Maria Elisabeth. Die Eltern dürfen zu Besuch kommen, die Kinder in den Ferien nach Hause fahren. Nicht alle wollen das.
Die Heimleiterin geht hinaus in den Garten. Es ist ein bewölkter, blasser Tag, windig, ein bisschen schon wie Herbst. Sie geht an einem großen Fußballplatz vorbei, dann bleibt sie vor einem Stall stehen. Esel und Schafe gibt es hier, außerdem eine Ziege und ein Pony. „Gerade der Umgang mit den Tieren ist für unsere Kinder wichtig. Sie erfahren, dass jedes Lebewesen das Recht auf ein gutes Leben und einen eigenen Lebensraum hat. Auch sie selbst“, sagt Schwester Maria Elisabeth und lächelt.
Dann wird ihr Blick wieder ernst. „Wir bräuchten in Deutschland viel mehr stationäre Einrichtungen, ich habe nämlich nicht den Eindruck,
Die Zahl der psychischen Misshandlungen stieg stark
Kinder sind ihren Eltern gegenüber loyal – trotz allem
dass wir unsere Kinder ausreichend schützen“, sagt sie. Und man brauche Menschen, die helfen. „Wo sind diejenigen, die bereit sind, Erzieher oder Sozialpädagoge zu werden?“
In eine ähnliche Richtung geht die Einschätzung von Prof. Dr. Michele Noterdaeme, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Josefinum in Augsburg. Viele Kinder seien auf therapeutische Angebote angewiesen. „Aber da ist es leider nicht so einfach, einen Platz zu bekommen. Nicht erst seit Corona. Es gab schon vorher eine allgemeine Unterversorgung.“
Auch die Chefärztin macht im Gespräch mit unserer Redaktion deutlich: Immer mehr Kinder brauchen Unterstützung. „Es gibt eine Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen, insbesondere seit Corona, aber auch schon davor.“Der Wegfall von Alltagsstrukturen sei ein wesentlicher Faktor dafür. „Es fand kaum Unterricht vor Ort statt, es gab keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Also waren die Kinder vermehrt auf ihre Eltern angewiesen.“In Familien, die ohnehin gut funktionierten, sei das kein so großes Problem – in Familien aber, in denen es bereits vor der Pandemie Schwierigkeiten gab, habe der Corona-Alltag noch mehr Probleme zutage gefördert.
Wenn Kinder aus ihrer Familie genommen würden, dann könne so eine Trennung hilfreich sein, erklärt Noterdaeme. „Aber man darf dabei nie vergessen, dass Kinder ihren Eltern gegenüber sehr loyal sind. Und das kann zu neuen Problemen führen, etwa zu Ängsten, Schlafproblemen, Depressionen oder Aggressionen gegenüber der Pflegefamilie.“
Dass die Kinder oft trotz allem zurück in ihre Familien wollen, weiß auch Schwester Maria Elisabeth. Sie blickt nachdenklich vom Garten in einen der Gruppenräume, wo ein paar Kinder spielen. Viele andere leben derweil noch in Familien, in denen sich die Situation immer mehr zuspitzt. Und irgendwann wird in Gundelfingen wieder das Telefon klingeln. Es werden keine guten Nachrichten sein.