Mindelheimer Zeitung

Droht ein Durchmarsc­h der Taliban?

Hintergrun­d Jetzt ist die 370000-Einwohner-Stadt Kundus unter der Kontrolle der Rebellen. Einwohner berichten von Angst und Chaos. Ein Vorrücken der Islamisten auf die Hauptstadt Kabul nicht mehr ausgeschlo­ssen

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Kabul Schekib Salarsai braucht nicht viele Worte, um zu beschreibe­n, wie es in seiner Heimatstad­t Kundus nun aussieht. „Totales Chaos“, berichtet Salarsai, einer von 370000 Menschen, die in der Großstadt in Afghanista­ns Norden zu Hause sind, am Telefon. „Die Leute von der Regierung sind geflohen. Die Taliban haben Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben weder Wasser noch Strom. Die Straßen sind gesperrt. Keiner kann die Verletzten in die Krankenhäu­ser bringen.“In verschiede­nen Teilen brennt die Stadt.

Nach zwei Tagen heftiger Kämpfe haben die militant-islamistis­chen Taliban die Provinzhau­ptstadt am Sonntag erobert – einer ihrer wichtigste­n Erfolge, seit die internatio­nalen Truppen mit ihrem Abzug begonnen haben. Die Islamisten hätten die wichtigste­n Regierungs­einrichtun­gen der Stadt übernommen, bestätigte­n drei Provinzrät­e. Der Name Kundus sagt auch in Deutschlan­d vielen etwas – hier in der Nähe betrieb die Bundeswehr jahrelang ein Feldlager. In genau diese Militärbas­is in der Nähe des Flughafens, die jetzt das 217. afghanisch­e Armeekorps beherbergt, hätten sich nun Sicherheit­skräfte und Regierungs­vertreter zurückgezo­gen, sagt Provinzrat Amruddin Wali. Die Regierung halte nur noch ein Gebiet rund um den Flughafen und diese Basis. Im „Camp Pamir“waren vergangene­s Jahr noch etwa 100 deutsche Soldaten stationier­t, um afghanisch­e Sicherheit­skräfte auszubilde­n.

Am Sonntagnac­hmittag dauerten Gefechte in dem Gebiet rund um

Flughafen an. Der Verlust von Kundus wiegt für Afghanista­ns Regierung schwer. Die Stadt ist ein wichtiges Handelszen­trum nahe der Grenze zum Nachbarlan­d Tadschikis­tan. Die Taliban hatten sie bereits 2015 und 2016 kurzzeitig eingenomme­n. Beide Male wurden die Islamisten mit US-Luftangrif­fen zurückgedr­ängt. Auch aktuell fliegen die USA Luftschläg­e – noch. Die US-Truppen sind praktisch schon abgezogen. Die Flieger steigen außerhalb Afghanista­ns auf. In weniger als drei Wochen endet die USMilitärm­ission offiziell.

Bisher gab es noch kein Zuge

der USA, die afghanisch­en Sicherheit­skräfte auch danach gegen die Taliban zu unterstütz­en. Am Sonntag war unklar, ob Regierungs­kräfte in einer großen Aktion die Rückerober­ung von Kundus versuchen. Die Stadt hat auch für die Bundeswehr, die Ende Juni nach fast 20 Jahren aus Afghanista­n abzog, große Bedeutung. Hier lieferten sich deutsche Soldaten stundenlan­ge Gefechte mit den Taliban. Nirgendwo fielen mehr Deutsche als in Kundus und der Nachbarpro­vinz Baghlan. Als die Bundeswehr 2013 zum ersten Mal aus Kundus abzog, sagte der damalige Verteidigu­ngsden minister Thomas de Maizière (CDU): „Kundus, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste, zu kämpfen. Das war eine Zäsur – nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellscha­ft.“

Nun ist Kundus bereits die vierte Provinzhau­ptstadt, die die Islamisten binnen drei Tagen erobern. Am Freitag war schon Sarandsch in Nimrus an der iranischen Grenze gefallen – praktisch kampflos. Am Samstag folgte Schibergha­n in Dschausdsc­han im Norden, Machtsitz des ehemaligen Kriegsstän­dnis fürsten und Ex-Vizepräsid­enten Abdul Raschid Dostum. Fast zeitgleich mit Kundus nahmen die Islamisten Sar-i Pul ein, Hauptstadt der gleichnami­gen Provinz im Norden.

Der Verlust solcher kleinerer Provinzhau­ptstädte sei „für die Regierung ein enormer Prestigeve­rlust, aber noch zu verschmerz­en“, meint der Afghanista­n-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanista­n Analysts Network. Der Fall von Kundus hingegen „wiegt schwerer“. Er könnte den Weg in die Hauptstadt Kabul öffnen. Man müsse aber die Frage stellen, ob die Taliban von Kundus überhaupt auf Kabul marschiere­n müssten. Sie könnten auch auf den Kollaps der Regierungs­truppen spekuliere­n, die in den gefallenen Städten kaum Gegenwehr geleistet hätten, sagt Ruttig.

Salarsai, der Mann aus Kundus, sagt, er könne momentan keine Sicherheit­skräfte sehen. Die Polizisten hätten ihre Waffen niedergele­gt und liefen in ziviler Kleidung herum. Die Nachbarn seien alle dabei, ihre Sachen zu packen. Sie hätten Angst. Über zivile Opfer gab es zunächst keine Angaben.

Das deutsche Auswärtige Amt sieht eine zunehmende Verschlech­terung der Sicherheit­slage. Die Situation entwickle sich rasant, sagte ein Ministeriu­mssprecher. Zur gleichen Zeit versuchten die Taliban, ihren Siegeszug fortzusetz­en. Sie drangen lokalen Medienberi­chten zufolge ins Zentrum von Talokan vor, der Hauptstadt der an Kundus grenzenden Provinz Tachar. Veronika Eschbacher und Hesamuddin Hesam, dpa

 ?? Foto: Abdullah Sahil, AP, dpa ?? So sieht es in der Provinzhau­ptstadt Kundus aus – nach den Kämpfen zwischen den Taliban und afghanisch­en Sicherheit­skräften. Seit Sonntag beherrsche­n die Taliban‰Rebellen die strategisc­h wichtige Stadt.
Foto: Abdullah Sahil, AP, dpa So sieht es in der Provinzhau­ptstadt Kundus aus – nach den Kämpfen zwischen den Taliban und afghanisch­en Sicherheit­skräften. Seit Sonntag beherrsche­n die Taliban‰Rebellen die strategisc­h wichtige Stadt.

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