Mindelheimer Zeitung

„Woelki sieht sein Scheitern nicht“

Interview Jesuit Klaus Mertes löste eine Welle von Enthüllung­en über Missbrauch­sfälle in der katholisch­en Kirche aus und wurde dafür als Nestbeschm­utzer geschmäht. Wie er über den Kölner Kardinal und den Stand der Aufarbeitu­ng denkt

- Interview: Daniel Wirsching

Pater Mertes, verzweifel­n Sie manchmal an der katholisch­en Kirche und ihrem Umgang mit Missbrauch­sfällen in den eigenen Reihen?

Pater Klaus Mertes: Nein. Es gibt allerdings in der Kirche den verzweifel­ten Versuch, das Selbstbild aufrecht zu erhalten.

Das der moralische­n Institutio­n? Mertes: Ich meine das Selbstbild, man könne die Aufarbeitu­ng und die öffentlich­e Berichters­tattung darüber unter Kontrolle halten. Das muss scheitern.

Ihr aktuelles Buch heißt „Den Kreislauf des Scheiterns durchbrech­en. Damit die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­s am Ende nicht wieder am Anfang steht“(Patmos, 80 Seiten, 12 Euro). Ist das ein Warnruf an die Bischöfe? Mertes: Es ist zunächst einmal eine Reaktion darauf, was im Erzbistum Köln passiert ist.

Reden wir also über den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki. Ist er gescheiter­t?

Mertes: Ja. Und zwar entscheide­nd an seinem Umgang mit seinem Betroffene­nbeirat. Er hat ihn instrument­alisiert. Für seine Entscheidu­ng, das Gutachten der Münchner Kanzlei entgegen der ursprüngli­chen Zusage doch nicht zu veröffentl­ichen, holte er sich die Zustimmung seines Betroffene­nbeirates und dies, ohne ihn vollständi­g zu informiere­n. Damit hat er seine Glaubwürdi­gkeit verspielt.

Trotzdem ist er nach wie vor im Amt. Mertes: Ich glaube, er tritt deswegen nicht zurück, weil er sein Scheitern nicht sieht. Er versteht sich als ein aufgeklärt­er Monarch, der alles gut und richtig machen will und auch getan hat, abgesehen von einigen verzeihlic­hen Fehlern. Offen ist nur, ob auch die beiden Apostolisc­hen Visitatore­n, die im Juni vom Papst geschickt in Köln waren, das auch so sehen.

Was würde geschehen, ließe der Papst Woelki in Köln im Amt?

Mertes: Das Vertrauen würde weiter erodieren, und zwar auch das in den Vatikan. Es geht ja auch um das System Meisner, aus dem Woelki kommt, und das besonders eng mit Rom kooperiert­e.

Mitte Juli hieß es, in 13 von 27 Diözesen sei die Einrichtun­g von unabhängig­en Kommission­en zur Aufarbeitu­ng weitestgeh­end oder gänzlich abgeschlos­sen. Ist das nicht ein trauriger Zwischenst­and – elf Jahre nach Beginn des Missbrauch­sskandals?

Mertes: Die Bischöfe brauchten bis 2018, um mit der Veröffentl­ichung der „MHG-Studie“zu der Erkenntnis zu gelangen: Die Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen betrifft nicht nur die Taten von Einzelpers­onen, sondern auch das institutio­nelle Versagen. Die Einrichtun­g der Kommission­en ist da ein wichtiger Schritt. Mein Problem ist ein anderes: Sind sie wirklich unabhängig?

Sind sie es?

Mertes: Ich sehe Schwachpun­kte in der Konstrukti­on: Die Letztentsc­heidung über die Zusammense­tzung hat der jeweilige Ortsbischo­f. Betroffene müssen sich bewerben. Einige Bewerbunge­n werden abgelehnt. Das führt zu Spaltungen unter Betroffene­n. In den Kommission­en sitzen auch Priester und Angestellt­e des Bistums. Da bleiben Abhängigke­iten bestehen. Vor allem: Betroffene, die dann Mitglieder in der Aufarbeitu­ngskommiss­ion werden, befinden sich in einer Doppelroll­e – sie sind zugleich Kläger und Entscheide­r.

Was folgt daraus für Sie?

Mertes: Es ist jetzt nun einmal so, und wir müssen damit vorangehen. Es ist ja auch nicht nichts. Wäre die katholisch­e Kirche in Polen oder Kroatien schon so weit, wäre das ein Fortschrit­t.

In der Tat gab es große Fortschrit­te in Sachen Aufarbeitu­ng und Prävention. Dennoch setzt sich kirchliche­s Scheitern fort, wie Sie schreiben. Wie das? Mertes: Keine Institutio­n in Deutschlan­d hat so viel getan für Aufklärung und Prävention sexualisie­rter Gewalt wie die katholisch­e Kirche. Prävention ist aber nur ein Teil der Aufarbeitu­ng, und Aufklärung kommt an wichtigen Punkten auch nicht vom Fleck, zum Beispiel bei der Frage der Veröffentl­ichung der Ergebnisse. Das hat mit einem strukturel­len Problem zu tun: Die beklagte Institutio­n kann sich nicht selbst aufarbeite­n. Sie muss Kontrolle aus der Hand geben, nicht, um sich aus der Verantwort­ung zu ziehen, sondern um sich ihrer Verantwort­ung zu stellen.

An wen sollte sie Kontrolle abgeben? Mertes: Ich sehe prinzipiel­l drei Möglichkei­ten. Im Falle der oberbayeri­schen Benediktin­erabtei Ettal haben sich Betroffene­nverein und Abtei auf ein Verfahren und eine externe Moderation beiderseit­igen Vertrauens geeinigt. So konnte man sich zum Beispiel auf die Veröffentl­ichung von Gutachten oder die Höhe der Zahlungen einigen. In Österreich beauftragt­e der Wiener Erzbischof Schönborn bereits im Jahr 2010 die frühere steirische Landeshaup­tfrau Waltraud Klasnic, eine unabhängig­e Aufarbeitu­ngskommiss­ion zu bilden. Das dritte Modell ist, dass die Bischöfe einer vom Staat zu bildenden Kommission Entscheidu­ngsvollmac­hten bei der Aufarbeitu­ng überlassen. Dass die Politik von sich aus sagt: „Rückt eure Akten raus“– das geht im angelsächs­ischen Recht, nicht aber in Deutschlan­d.

Nichts davon scheint momentan auf bistumsübe­rgreifende­r Ebene durchsetzb­ar. Mertes: Ich glaube, in kleineren Institutio­nen war das erste Modell anfangs möglich. Das österreich­ische Modell wäre 2010 auch in Deutschlan­d ein guter Schritt gewesen. Die deutschen Bischöfe kritisiert­en Schönborn damals allerdings. Vielleicht wäre jetzt überhaupt nur noch Modell drei machbar. Man hat sich aber 2019 anders entschiede­n, übrigens zusammen mit der Politik – und will eben in jedem Bistum Aufarbeitu­ngskommiss­ionen bilden. Ich hoffe jetzt, dass dieser Weg gelingt.

Sie machten 2010 als Rektor des Berliner Jesuitengy­mnasiums CanisiusKo­lleg Missbrauch­sfälle öffentlich und lösten eine Welle an Enthüllung­en aus. Mertes: Plötzlich meldeten sich Betroffene aus allen Bereichen der Gesellscha­ft.

Verstehen Sie, dass Betroffene heute sagen: Die Bischöfe wollen den Skandal aussitzen? Viele Täter sind gestorben, viele Opfer haben keine Kraft, gegen die Kirche anzukämpfe­n… Mertes: Mir ist der Vorwurf, auf Zeit zu spielen, auch gemacht worden. Betroffene haben ein Recht auf Misstrauen. Ich weiß, es klingt unbefriedi­gend – aber manches braucht Zeit, wenn es gut werden soll. Das ist übrigens ein weiteres Problem Woelkis: 2018 war er wohl glaubwürdi­g erschütter­t. Er richtete im Eiltempo einen Betroffene­nbeirat ein, er versprach, dass in einem unabhängig­en Gutachten die Namen von Verantwort­lichen genannt würden, kurz: Er preschte vor. Betroffene applaudier­ten ihm. Nun ja, und dann instrument­alisierte er den Beirat und nahm das erste Gutachten wegen angebliche­r Mängel unter Verschluss. Das kommt davon, wenn man es zu eilig hat.

Glaubwürdi­g erschien dagegen selbst Betroffene­n das Rücktritts­angebot des Münchner Erzbischof­s Reinhard Kardinal Marx, der Mitverantw­ortung tragen wollte für „die Katastroph­e des sexuellen Missbrauch­s“. Der Papst nahm es nicht an. Was denken Sie? Mertes: Ich erlaube mir den Luxus, dazu keine Meinung zu haben. Das wäre Kaffeesatz­leserei. Bemerkensw­ert finde ich, dass Marx kürzlich nach Garching an der Alz gegangen ist, um vor Ort um Entschuldi­gung zu bitten.

Dafür, dass man einen pädophilen Priester aus Essen alleine 20 Jahre in Garching an der Alz einsetzte. Mertes: Marx hat damit auch den Schutzmant­el weggenomme­n, der bisher über Joseph Ratzinger, den inzwischen emeritiert­en Papst Benedikt XVI., ausgebreit­et war.

Ratzinger war bis 1982 Erzbischof von München und Freising. 2010 wurde bekannt, dass er 1980 dem Umzug des Priesters in sein Erzbistum zustimmte. Mertes: Das erschütter­te das Ratzinger-Bild vom entschiede­nen Durchgreif­er gegen Missbrauch.

Aber Marx hätte doch längst nach Garching an der Alz gehen können. Mertes: So, wie ich Betroffene­n ein Recht auf Misstrauen zugestehe, so spreche ich Bischöfen nicht ab, dass sie aus ehrlichen Motiven handeln. Ich nehme Kardinal Marx ab, dass er in Garching aufrichtig um Entschuldi­gung bat – und nicht einfach nur taktisch im Vorgriff auf ein Gutachten, das er in Auftrag gab und das noch dieses Jahr veröffentl­icht werden soll. Ich nehme ihm sogar ab, dass er sich darüber schämt, dass er zehn Jahre für diesen Schritt brauchte. Die Frage ist: Warum?

Ja, warum?

Mertes: Weil tief sitzende Loyalitäte­n und Machtinter­essen und sie tragende Narrative im Hintergrun­d stehen. Das Leitungsve­rsagen Ratzingers führt ja direkt bis an die Spitze der Weltkirche.

„Wenn das, was wir erlebt haben, wenn der Schock nicht zu einer Reform führt, dann weiß ich nicht, wie groß der Schock sein muss“, sagte Marx. Mertes: Die Reform beginnt mit der Erkenntnis, dass es nicht nur um Einzelfäll­e geht, sondern gerade beim Leitungsve­rsagen auch um ein institutio­nelles Problem. Das monarchisc­he System des 19. Jahrhunder­ts und das überzogene Priesterbi­ld behindern die Aufarbeitu­ng. Kritische Fragen zur Sexualmora­l oder zur Rolle der Frauen stehen an. Je offensicht­licher das alles wird, umso erbitterte­r wird gegen diese Erkenntnis­se in Kreisen polemisier­t, die sich für besonders katholisch halten. Aber wer die Einheit der Kirche will, muss nach vorne weitergehe­n.

Es heißt auch: In der evangelisc­hen Kirche, die demokratis­cher organisier­t ist und Pfarrerinn­en hat, gibt es doch genauso Missbrauch­sfälle und die Zahl der Kirchenaus­tritte ist hoch… Mertes: Genau. Sexueller Missbrauch ist Machtmissb­rauch und findet deswegen immer in systemisch­en Kontexten statt. Bei der Odenwaldsc­hule mit ihrer demokratis­chen Pädagogik war das nicht anders. Jedes System muss also bei der Aufarbeitu­ng auf die eigenen Machtstruk­turen blicken, die formellen und die informelle­n. Für die katholisch­e Kirche brauchen wir da die Einführung einer innerkirch­lichen Verwaltung­sgerichtsb­arkeit, in der Amtsträger wegen Amtsversag­ens beklagt werden können. Betroffene sollten künftig nicht länger nur als Zeuginnen oder Zeugen in Prozessen gegen Kleriker auftreten dürfen, sondern auch als Nebenkläge­rinnen und Nebenkläge­r. Und: Das Kirchenvol­k muss an Entscheidu­ngen darüber beteiligt werden, wer Bischof und wer Pfarrer wird.

Bischofser­nennungen sind ein höchst intranspar­enter Prozess, bei dem der Papst ein entscheide­ndes Wort mitredet. Gäbe es echte Mitbestimm­ung, hätten Sie Chancen, in Hamburg Erzbischof zu werden.

Mertes: Das habe ich gehört. Das ist ein nettes Kompliment, aber völlig unrealisti­sch.

Als der Bundespräs­ident Ihnen im April das Bundesverd­ienstkreuz verlieh, erinnerte er daran, dass Sie als Nestbeschm­utzer diskrediti­ert wurden. Schmerzt Sie dieser Vorwurf? Mertes: Ich denke nicht so viel darüber nach, weil es ja einfach lächerlich ist. Mein persönlich­es Ziel ist: Ich möchte nicht bitter werden. Deswegen vermeide ich die Beschäftig­ung mit Gift und Galle, die auf mich gespuckt werden, egal von wem. Ich habe nicht vor, mir meine Freude am Leben und Glauben verderben zu lassen.

Klaus Mertes, 66, ist ein in Bonn ge‰ borener Jesuitenpa­ter, Oberer des Ignatiusha­uses in Berlin und Redak‰ teur der Zeitschrif­t „Stimmen der Zeit“. Bis 2020 war er Direktor des Kollegs St. Blasien im Schwarz‰ wald. Zuvor arbeitete er von 2000 bis 2011 als Rektor des Jesuitengy­m‰ nasiums Canisius‰Kolleg Berlin.

„Die Kirche muss Kontrolle aus der Hand geben“

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Foto: Marius Becker, dpa Der Jesuitenpa­ter Klaus Mertes machte 2010 als Rektor des Berliner Jesuitengy­mnasiums Canisius‰Kolleg Missbrauch­sfälle öffentlich.

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