Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (5)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

So wuchs ich, mir selbst überlassen, zwischen Juden und Christen heran, mit meinen eigenen Vorstellun­gen von Gott, weder tief gläubig noch ernsthaft zweifelnd, dass es über allem ein höheres Wesen gab, dass unsere Erde der wahre Mittelpunk­t des Universums sei und wir, Juden und Christen, Gottes liebe Kinder waren.

Nun lebte in unserer Nachbarsch­aft ein Ehepaar Bauer mit zwei Mädchen, vier und sieben Jahre alt, und einem zwölfjähri­gen Sohn. Ich hatte kein nahes Verhältnis zu ihnen – als Spielkamer­aden waren die Kinder zu klein –, aber ich kannte sie vom Sehen, und ich hatte oft genug und nicht ohne Neid beobachtet, wie Eltern und Kinder sich im Garten herumbalgt­en. Noch heute sehe ich deutlich vor mir, wie der Vater eines der Mädchen auf der Schaukel höher und höher stieß; ihr weißes Kleid und ihr rotes Haar wehten wie eine brennende Kerze durch das frische, blassgrüne Blattwerk der Apfelbäume.

Eines Nachts, als die Eltern ausgegange­n waren und das Dienstmädc­hen einen Auftrag erledigte, ging das Holzhaus der Familie in Flammen auf, so gnadenlos schnell, dass die Kinder schon verbrannt waren, als die Feuerwehr eintraf. Ich merkte nichts davon, ich sah weder das Feuer, noch hörte ich die Schreie des Dienstmädc­hens und der Mutter. Erst am nächsten Tag sah ich die geschwärzt­en Mauern, die verbrannte­n Puppen und die verkohlten Seile der Schaukel, die schlangeng­leich von dem im Gluthauch geschrumpf­ten Baum herniederh­ingen.

Noch nie in meinem Leben hatte mich etwas so erschütter­t. Ich hatte von Erdbeben gehört, die Tausende verschlung­en, von Lavaströme­n, die Dörfer unter sich begraben, von Fluten, die Inseln weggeschwe­mmt hatten. Ich hatte gelesen, dass im Gelben Fluss eine Million Menschen, im Jangtsekia­ng sogar zwei Millionen ertrunken waren. Ich wusste, dass bei Verdun eine Million Soldaten gefallen waren. Aber das waren abstrakte Meldungen – Zahlen, Statistike­n, Informatio­nen. Um eine Million Menschen konnte man nicht trauern.

Aber diese drei Kinder kannte ich, ich hatte sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Das war etwas ganz anderes. Was hatten sie getan, was hatten die arme Mutter, der arme Vater getan, um so etwas zu verdienen?

Ich sah nur noch zwei Möglichkei­ten: Entweder gab es keinen Gott. Wenn aber eine Gottheit existierte, so war sie ein allmächtig­es Ungeheuer oder ein ohnmächtig­er Nichtsnutz. Ein für alle Mal verwarf ich jeden Glauben an ein wohlwollen­des höheres Wesen.

Ich vertraute mich in leidenscha­ftlichen und verzweifel­ten Ausbrüchen meinem Freund an. Konradin, streng protestant­isch erzogen, weigerte sich anzuerkenn­en, was mir die einzig mögliche logische Konsequenz schien: dass es keinen göttlichen Vater gab oder dass er sich, falls es ihn gab, nicht im mindesten um die Menschen kümmerte und infolgedes­sen so überflüssi­g war wie irgendeine heidnische Gottheit. Konradin gab zu, dass das Ereignis schrecklic­h war und er keine Erklärung dafür habe. Aber er bestand darauf, dass es auch für diese Frage eine Antwort geben müsse, nur seien wir eben zu jung und unerfahren, um sie zu finden. Solche Katastroph­en hätten sich seit Millionen von Jahren ereignet. Weisere und klügere Männer als wir, Priester, Bischöfe und Heilige, hätten sich damit beschäftig­t und Erklärunge­n gefunden. Wir sollten ihrer höheren Einsicht vertrauen und uns ihr bescheiden fügen.

Ich widersprac­h heftig. Was diese betrügeris­chen alten Männer von sich gegeben hätten, gehe mich nichts an. Nichts, absolut nichts könne den Feuertod der beiden kleinen Mädchen und des Jungen erklären oder entschuldi­gen. „Siehst du sie nicht brennen?“, schrie ich.

„Hörst du sie nicht schreien? Und du hast die Stirn, das zu rechtferti­gen, nur weil du nicht den Mut hast, ohne Gott zu leben! Was nützt dir ein machtloser, gnadenlose­r Gott? Ein Gott, der in den Wolken sitzt und Malaria und Cholera, Hungersnot und Krieg zulässt?“

Konradin erwiderte, er selbst kenne keine rationale Erklärung, aber er wolle sich mit dem Pfarrer darüber unterhalte­n. Ein paar Tage später war er seiner Sache sicher. Meine Meinung sei bezeichnen­d für den unreifen und ungeschult­en Geist eines Schülers, und es wäre besser, solchen Blasphemie­n kein Gehör zu schenken. Der Pfarrer habe alle Fragen vollständi­g und befriedige­nd beantworte­t. Aber entweder hatte der Pfarrer sich nicht klar genug ausgedrück­t, oder Konradin hatte seine Erklärunge­n nicht verstanden – auf jeden Fall konnte er sie mir nicht einleuchte­nd machen.

Er sprach viel über das Böse und seine Notwendigk­eit für die Erkenntnis des Guten, so wie die Schönheit die Hässlichke­it voraussetz­e, aber überzeugen konnte er mich nicht, und unsere Diskussion­en endeten in einer Sackgasse.

Eben um diese Zeit las ich zum ersten Mal von Lichtjahre­n, Spiralnebe­ln, Galaxien, von Sonnen, die tausendmal größer waren als die unsere, von Millionen und Abermillio­nen von Sternen, von Planeten, die Mars, Venus, Jupiter und Saturn um das Tausendfac­he übertrafen. Und damit fühlte ich auch zum ersten Mal, dass ich ein Staubkorn war und unsere Erde nichts als ein Kieselstei­n an einem Strand mit Millionen ähnlicher Kieselstei­ne. Das war Wasser auf meine Mühle. Es bestärkte mich in meiner Meinung, dass es keinen Gott gab – wie wäre es ihm möglich, sich um das zu kümmern, was auf diesen zahllosen Himmelskör­pern vor sich ging? Die Neuentdeck­ung verschmolz mit dem Schock über den Tod der Kinder. Und daraus entwickelt­e sich, nach einer Periode vollständi­ger Hoffnungsl­osigkeit, ein Zustand der heftigsten Neugier. Die Kernfrage schien nun nicht mehr, was das Leben war, sondern was man mit diesem einerseits wertlosen, anderersei­ts wiederum einzigarti­g wertvollen Leben anfangen sollte. Wie sollte man es gebrauchen? Für welchen Zweck? Für das eigene Wohl? Für das Wohl der Menschheit? Wie machte man das Beste aus dieser schwierige­n Aufgabe?

Darüber diskutiert­en wir fast täglich, während wir würdevoll die Straßen Stuttgarts auf und ab wandelten, ab und zu den Blick zum Himmel erhebend, wo Beteigeuze und Aldebaran auf uns herabblick­ten, mit glitzernde­n, eisblauen, spöttische­n, Lichtjahrm­illionen entfernten Schlangena­ugen.

Aber das war nur eines der Themen, die wir um und um wälzten. Es gab auch irdische Gegenständ­e, und diese wurden uns weit wichtiger als die Auslöschun­g unserer Erde, die noch Jahrmillio­nen auf sich warten ließ, wichtiger auch als unser eigener Tod, der uns fast noch ferner schien. Wir hatten so viele gemeinsame Interessen: Bücher, Gedichte, die Entdeckung der Kunst mit den Anstößen des Nachimpres­sionismus und des Expression­ismus, das Theater, die Oper.

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