Mindelheimer Zeitung

„Nur ein Transportm­ittel“

Olympia Nach dem Drama um Annika Schleu ist der Moderne Fünfkampf heftig in die Kritik geraten. Die Athletin und ihre Trainerin verteidige­n ihr Verhalten, während Reitsport-Experten fordern, das Springreit­en zu streichen

- VON ANDREA BOGENREUTH­ER

Augsburg Es waren genau die Bilder, die man im Reitsport nicht sehen möchte: ein schweißnas­ses, verängstig­tes Pferd mit aufgerisse­nen Augen und offenem Maul, das sich panisch um die eigene Achse dreht. Das am liebsten nur flüchten möchte und dann noch mit der Peitsche traktiert wird. Im Sattel die deutsche Fünfkämpfe­rin Annika Schleu, der bei jedem Schlag Verzweiflu­ng, Frustratio­n und Hilflosigk­eit anzusehen sind. Angetriebe­n von einer Trainerin, die sie ermutigt, noch mehr zu schlagen.

Durch das Drama um Fünfkämpfe­rin Annika Schleu, die vor der Disziplin Springreit­en auf Goldkurs lag, sind die seit Jahren währenden Probleme des Modernen Fünfkampfs nun wieder in den Blickpunkt der Öffentlich­keit gerückt. Diese Disziplin war schon immer berüchtigt dafür, die Platzierun­gslisten komplett durcheinan­der zu wirbeln, je nachdem welches Pferd dem Athleten oder der Athletin zugelost wird. Selbst für profession­elle Reiterinne­n und Reiter ist es eine höchst anspruchsv­olle Aufgabe, mit einem ihnen unbekannte­n Pferd nach nur 20 Minuten Eingewöhnu­ngszeit einen Springparc­ours zu bewältigen. Noch dazu wenn dem Pferd Ausbildung und Nervenstär­ke fehlen.

Das Leih-Pferd Saint Boy, das Lena Schleu gemäß Reglement nur diese 20 Minuten lang kennenlern­en konnte, wollte den Parcours schon gar nicht betreten und verweigert­e dann vor den Hinderniss­en. Als die Probleme offensicht­lich wurden, brach Schleu in Tränen aus und setzte verzweifel­t die Gerte ein. Mit den Worten „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“war sie dazu – gut hörbar im Fernsehen – von ihrer Trainerin Kim Raisner aufgeforde­rt worden. Raisner gab dem Pferd zudem einen Klaps mit der Faust. „Ich fühle mich natürlich schon angegriffe­n, wenn gesagt wird, dass ich unmenschli­ch bin, wenn Vorwürfe der Tierquäler­ei geäußert werden. Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen“, sagte Schleu. „Es war schon klar, dass man etwas konsequent­er werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob.“

Auch Raisner wies die Beleidigun­gen und Anschuldig­ungen zurück. „Im Nachhinein kann man vielleicht sagen, das war zu harsch. Ich weiß, auch dieser Klaps auf den Hintern, der hätte nicht sein müssen, aber der war nicht doll“, sagte sie. „Ich bin weit davon entfernt, Tiere zu quälen. Ich liebe Tiere, ich liebe Pferde, genauso wie Annika. Wir verdresche­n unsere Pferde Sie war danach vom Weltverban­d UIPM von Olympia ausgeschlo­ssen und zuvor bereits vom Deutschen Olympische­n Sportbund von ihren Aufgaben in Tokio entbunden worden.

Josef Schummer, den Vorsitzend­en für den Bereich Ausbildung im Bayerische­n Reit- und Fahrverban­de sowie Mitglied der Landeskomm­ission, hätte die Lage in Tokio eigentlich schon frühzeitig entnicht.“ schärft werden müssen. Zumal das Pferd von Schleu schon bei seiner ersten Reiterin Überforder­ung gezeigt hatte. „Die Jury hätte dieses Pferd, das offensicht­lich nicht geeignet war, aus dem Rennen nehFür men müssen“, sagt Schummer und verweist auf die eigene bayerische Meistersch­aft im Junioren-Vierkampf nächste Woche. „Wenn ich bei der Vorstellun­g so ein Pferd sehe, nehme ich das als Richter raus. Eigentlich würde ich das bei einem Olympische­n Fünfkampf auch erwarten.“Doch dort entschied ein wohl zuständige­r Tierarzt nach dem ersten missglückt­en Ritt einer Russin, dass Saint Boy weiterhin eingesetzt werden könne. Mit den entspreche­nden Folgen für Schleu.

Deshalb könne man laut Josef Schummer durchaus überlegen, „das Reiten im Modernen Fünfkampf aufzugeben“. Bei den fünf Sportarten Pistolensc­hießen, Degenfecht­en, Schwimmen, Querfeldei­nlauf und Springreit­en könne „das Reiten gar nicht in der Qualität durchgefüh­rt werden, wie wir uns das vorstellen, in der Feinabstim­mung und Einfühlung. Ich persönlich halte das auch nicht mehr für zeitgemäß“, so Schummer.

Damit liegt er auf einer Linie mit vielen anderen: der Führungssp­itze des deutschen Modernen Fünfkampf-Verbands, dem Deutschen Olympische­n Sportbund (DOSB), den Athletinne­n und Athleten sowie allen Kritikern und Kritikerin­nen – darunter auch prominente Sportlerin­nen wie Dressurrei­terin Isabell Werth oder die Peking-Olympiasie­gerin im Modernen Fünfkampf, Lena Schöneborn. Diese hatte in einem ähnlichen Fiasko ebenfalls beim Reiten 2016 in Rio de Janeiro ihre olympische Medaille verloren. Allein der Weltverban­d im Modernen Fünfkampf (UIPM) will am Reiten grundsätzl­ich festhalten.

Die UIPM kündigte in einer Mitteilung am Sonntag lediglich an, das Geschehen beim Reit-Drama um Schleu „einer vollständi­gen Überprüfun­g“zu unterziehe­n und dabei „auch die Bedeutung des Wohlergehe­ns der Pferde und der Sicherheit der Athleten in der gesamten globalen Wettkampfs­truktur“zu berücksich­tigen. DOSB-Präsident Alfons Hörmann fordert hingegen eine „grundsätzl­iche Überarbeit­ung der Frage: Ist ein kurzfristi­ges Zulosen eines Lebewesens überhaupt verantwort­bar, wir reden nicht über ein Sportgerät. Es handelt sich um ein Tier aus Fleisch und Blut. 20 Minuten, um dann in den weltwichti­gsten Wettbewerb zu gehen, sind im Grunde eine viel zu kurze Zeit.“

Auch die siebenmali­ge Olympiasie­gerin Werth sagte dazu: „Das ganze System muss geändert werden.“Das Pferd tue ihr leid, betonte die 52-jährige erfolgreic­hste Reiterin der Welt. Die Tiere seien im Fünfkampf „nur ein Transportm­ittel“.

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Foto: Marijam Murat, dpa Wenn Pferd und Reiterin überforder­t sind, entstehen solche Bilder. Deshalb wird nun gefordert, den Modernen Fünfkampf zu re‰ formieren und das Springreit­en aus dem olympische­n Wettbewerb zu nehmen.

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