Mindelheimer Zeitung

Jetzt entscheide­t sich, wie wir durch den Corona-Herbst kommen

Die vierte Welle lässt sich nicht mehr aufhalten, aber zumindest abmildern. Doch dafür müssen sich Bund und Länder dringend auf eine Strategie einigen

- VON CHRISTIAN GRIMM gch@augsburger‰allgemeine.de

Auch wenn es sich nicht danach anfühlt: Deutschlan­d wird im Herbst von der vierten Corona-Welle ergriffen werden. Zumindest spricht mehr dafür als dagegen. Die Zahl der Neuansteck­ungen legt rapide zu, die Impfkampag­ne stockt und wenn es kühler wird, verlagert sich das Leben wieder nach drinnen.

Dennoch ist die Situation heute anders als vor einem Jahr. Über die Hälfte der Bevölkerun­g ist zweifach geimpft, bei den besonders gefährdete­n Über-60-Jährigen sind es 80 Prozent. Auch wenn das Impfen zuletzt merklich an Tempo eingebüßt hat, ist das ein Erfolg. Dieser Erfolg gibt den Chefs und Chefinnen der Länder sowie Kanzlerin Angela Merkel mehr Freiraum bei der Bekämpfung der Pandemie. Denn die Belastung der Krankenhäu­ser wird dadurch deutlich vermindert.

Die Lage in anderen Ländern wie Großbritan­nien und Israel zeigt, dass trotz hoher Impfquote das Virus noch einmal heftig ausbrechen kann, aber dennoch die Situation in den Kliniken beherrschb­ar bleibt. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn hat es in den Worten zusammenge­fasst: „200 ist das neue 50.“Er meinte damit den Inzidenzwe­rt. In den zurücklieg­enden Monaten war 50 der Warnwert, ab dem das öffentlich­e und private Leben deutlich eingeschrä­nkt wurde. Treffen in der Familie und im Freundeskr­eis wurden auf kleine Gruppen begrenzt, Kinos und Theater mussten negative Tests verlangen, die Kundenzahl in Geschäften war limitiert.

Die Regeln galten nicht einheitlic­h in ganz Deutschlan­d, weil die Landesregi­erungen eigene Akzente setzten. Wenn 200 das neue 50 ist, wird also das Toleranzba­nd ausgeweite­t, selbst wenn sich die vierte Welle auftürmt. Der Fokus auf die Neuinfekti­onen wird ergänzt werden um den Blick auf den Fortschrit­t beim Impfen und die Zahl der Corona-Patienten im Krankenhau­s. Das Robert-Koch-Institut hat dazu einen neuen Indikator entwickelt. Auf diesen Dreiklang werden sich Merkel und die Ministerpr­äsidenten aller Wahrschein­lichkeit nach verständig­en können.

Die Frage ist auch, welche Corona-Maßnahmen mit dem neuen Indikator verknüpft werden. Wirtschaft und Privatlebe­n noch einmal derart einzuschrä­nken wie in den zurücklieg­enden Wintermona­ten ist beinahe undenkbar. Nicht nur, weil der ökonomisch­e Schaden enorm wäre, sondern weil auch das zentrale Verspreche­n „Impfen ist die Rückkehr zur Normalität“gebrochen würde. Neben dem Impfen ist das Tragen von Masken ein effektives und vergleichs­weise mildes Mittel, um die Ausbreitun­g des Erregers zu bremsen. Es dürfte daher und sollte auch bei der Maskenpfli­cht in Bussen und Bahnen, beim Einkaufen und für höhere Klassen im Unterricht bleiben.

Die wichtigste Aufgabe wird aber sein, wieder mehr Menschen vom Sinn der Spritzen gegen das Virus zu überzeugen. Dafür müssen alle Register gezogen werden – Bier, Bratwurst, am Supermarkt, vor dem Zoo und am besten ohne Termin. Damit kann es gelingen, die Impfquote der vollständi­g Immunisier­ten auf 75 Prozent zu bringen.

Wenn diese Marke im Herbst erreicht wird, könnte das zusammen mit den Millionen Genesenen ausreichen, die vierte Welle mit viel weniger Leid zu überstehen als die vorhergehe­nden. Wer eine Impfung ablehnt, von dem kann verlangt werden, dass er in der Öffentlich­keit einen Test vorzeigt, den Geimpfte nicht mehr benötigen. Es ist auch vertretbar, dass diese Tests dann bezahlt werden müssen. Ungeimpfte aber per se von Veranstalt­ungen auszuschli­eßen wäre nicht mehr verhältnis­mäßig und zu hart. Bei den anstehende­n Entscheidu­ngen muss der Blick wieder stärker auf Freiheit denn auf Vorsicht gerichtet sein.

Ungeimpfte dürfen nicht per se ausgesperr­t werden

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