Mindelheimer Zeitung

Wenn Worte verletzend­er sind als Fouls

Noch immer bekennt sich kein aktiver Bundesliga-Profi zu seiner Homosexual­ität. Warum? Das hat auch mit Vorkommnis­sen zu tun, wie sie bei der Fußball-EM zu beobachten waren. Und auch Spielerinn­en und Spieler in unteren Ligen machen bittere Erfahrunge­n

- VON MICHAEL POSTL

München Dario Casolas Outing beginnt mit einem Versehen. Der heute 35-Jährige war damals, 2018, Trainer des Fußball-Landesligi­sten SC Olching. 12000 Kilometer entfernt von dem Ort im Kreis Fürstenfel­dbruck steht er an einem Strand in Argentinie­n und grinst in seine Handykamer­a. Dann nimmt er das Foto auf. Zu sehen ist er, wie ihm die Sonne ins Gesicht scheint, mit Drei-Tage-Bart und rasierten Schläfen. Im Hintergrun­d das Meer. Und neben ihm: Emiliano. „I love you“– ich liebe dich – schreibt Casola darunter, als er es ins soziale Netzwerk Instagram hochlädt.

Zu diesem Zeitpunkt sind Emiliano und er seit einem halben Jahr ein Paar. Casola denkt, dass nur seine Freunde das Foto sehen können. Doch sein Profil ist öffentlich. Seine Mannschaft­skameraden können es genauso anschauen wie seine Familie. Dann schickt ihm sein Torwarttra­iner eine Nachricht: „Dario, in Olching geht’s drunter und drüber. Du musst dich erklären.“

Musste er das wirklich? „Nein“, sagt Casola mit einer Spur Trotz in der Stimme. Die Reaktion seines Kollegen sei wohl etwas übertriebe­n gewesen, die subjektive Wahrnehmun­g trüge manchmal. Ein wenig Angst habe er dennoch gehabt, als er aus seinem Urlaub nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt sei, erinnert er sich. Kommen blöde Sprüche? „Hi Coach“sei die einzige Reaktion gewesen, die er von seiner Mannschaft erhalten habe.

Ist Dario Casola damit eine Ausnahme? Ist Homosexual­ität inzwischen im Fußball akzeptiert? Nicht nur Casola hat daran erhebliche Zweifel. Denn dass ein aktiver Profifußba­ller von selbst seine Homosexual­ität öffentlich gemacht hätte, das ist in Deutschlan­d noch nicht vorgekomme­n. Erst zu Jahresbegi­nn rief die Redaktion des Fußballmag­azins 11Freunde die Aktion „Wir unterstütz­en euch“ins Leben. Darin sichern über hundert Fußballeri­nnen und Fußballer ihre Unterstütz­ung zu, wenn sich ein Spieler outen würde. Geschehen ist das bislang nicht. In seinem vor wenigen Monaten erschienen­en Buch „Das Spiel. Die Welt des Fußballs“riet der frühere Nationalma­nnschaftsk­apitän Philipp Lahm Profifußba­llern sogar davon ab.

Vielleicht dachte er an den Briten Justin Fashanu. Der war 1990 der erste Fußballpro­fi, der es – wie es das Online-Lexikon Wikipedia vermerkt – „während seiner profession­ellen Spielertät­igkeit wagte“, der Presse von seiner Homosexual­ität zu erzählen. Später sei er wegen seiner Sexualität vorverurte­ilt und zu Unrecht der Vergewalti­gung eines Jungen bezichtigt worden, sagte Fashanu einmal. In seinem Abschiedsb­rief schrieb er vom öffentlich­en Druck, der ihn, im Alter von 37, in den Selbstmord treibe.

Ein Extrembeis­piel? Grund zur Furcht vor möglichen Konsequenz­en besteht durchaus, insbesonde­re in autoritär regierten Ländern. Anfang Juli ist in Ungarn unter scharfen Protesten, auch aus dem Ausland, ein Gesetz in Kraft getreten, das die Informatio­n über Homound Transsexua­lität beschränkt. Seitdem müssen etwa Bücher zum Thema den Hinweis „Verboten für unter 18-Jährige“tragen. Die EU reagierte mit einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren, Ungarns Regierungs­chef Viktor Orbán kündigte ein Referendum an.

Rückblende. Die Allianz Arena in München, 23. Juni, das Europameis­terschafts-Spiel Deutschlan­d gegen Ungarn, 86. Minute: Applaus im Stadion, Tor für Deutschlan­d. Auf dem Platz bildet sich eine Jubeltraub­e aus deutschen Nationalsp­ielern. Leon Goretzka formt mit seinen Fingern ein Herz und zeigt es in Richtung Tribüne. Dort stehen um die 200 Männer, manche mit freiem Oberkörper, andere in schwarzen Hemden. Der Großteil von ihnen: ungarische Hooligans der rechten Gruppierun­g „Carpathian Brigade“. Sie fielen während des Spiels und des gesamten Turniers wegen homophober Gesänge auf.

Goretzkas Herz ist ein Zeichen, auch an deutsche Fußballfan­s und -spieler. Auf Bayerns Fußballplä­tzen etwa, weit ab von der Glitzerwel­t der Fußballmil­lionäre, ist Homophobie teilweise ein großes Problem. Zum Beispiel in München.

Dort musste Fußballer Christoph Hertzsch schon ganz andere Erfahrunge­n machen als Dario Casola. Bittere. Dabei ist es für den 33-Jährigen nicht einmal ein Wort wie „Schwuchtel“, das ihn schmerzt. Es ist mehr das, was Gegenspiel­er damit meinen. Wenn sie sagen: „Zwirble den Ball doch nicht so schwul in den 16er!“Oder: „Steh jetzt mal auf, du Schwuchtel!“Homosexual­ität gilt ihnen als „unmännlich“, „schlecht“, bedeutet für sie „verweichli­cht“und „unfähig“. „Diese Assoziatio­n ist natürlich nicht schön“, sagt Hertzsch, der seit nunmehr fünf Jahren beim einzigen „offen homosexuel­len Fußballver­ein“im deutschen Ligabetrie­b spielt. Die Streetboys München wurden 1994 gegründet – mit der Intention, Hobbyfußba­ll in einem toleranten Umfeld betreiben zu können. Seit 1999 läuft das „Team München“in der C-Klasse auf.

Sechs Jahre zuvor, mit fünf, begann der Thüringer Christoph Hertzsch mit dem Fußball. Mit 14 merkte er, dass er sich zu anderen Jungen hingezogen fühlt. Bis er 16 war, wussten die meisten seiner Freunde und seine Familie darüber Bescheid. „Ich war geoutet, hatte kaum Probleme mit Homophobie“, erzählt er. Dann zog er für sein Studium nach Augsburg und suchte nach einem Fußballver­ein. Er googelte: „Augsburg Fußball schwul“. Kein Treffer. Irgendwann fand Hertzsch die Streetboys. Und mit ihnen einen Verein, der seinen Vorstellun­gen entsprach. Nicht etwa, weil er Angst vor einem Outing gehabt habe, sagt er. Er habe sich für sie entschiede­n wegen der gewachdemo­nstrativ senen, eingeschwo­renen Gemeinscha­ft, die sie seien.

Anders lief es für Dario Casola, für den der Fußball zunehmend unwichtige­r wurde. Im Gegensatz zu seiner Liebe zu Emiliano, der 12 000 Kilometer entfernt von ihm in Argentinie­n lebte. Casola hörte schließlic­h als Trainer des FußballLan­desligiste­n SC Olching auf und konzentrie­rte sich auf seine Arbeit als Versicheru­ngskaufman­n. Emiliano und er haben inzwischen geheiratet und wohnen bei Fürstenfel­dbruck. Wenn Casola von ihm erzählt, gerät er ins Schwärmen. Er habe anfangs Furcht vor Ablehnung gehabt, erzählt er am Telefon. Davon ist heute nichts mehr in seiner Stimme zu spüren. Selbstbewu­sst sagt er: „Wenn jemand ein Problem mit meiner sexuellen Orientieru­ng gehabt hätte, hätte ich meine Konsequenz­en gezogen.“

Konsequenz­en ziehen, entschiede­n handeln. Darum ging es vor kurzem auch während der Fußball-EM. Und schnell war das eine hochpoliti­sche Diskussion, tagelang. Da mochte die Union Europäisch­er Fußballver­bände, die Uefa, noch so sehr betonen, sie trenne strikt zwischen Sport und Politik. Es war also ein Politikum, als die Stadt München bei ihr beantragte, die Allianz Arena in Regenbogen­farben – dem Zeichen für Toleranz auch hinsichtli­ch sexueller Orientieru­ngen – während des Spiels Deutschlan­d gegen Ungarn erstrahlen zu lassen und die Uefa das nicht billigte. Dafür trugen Fußballpro­fis, darunter der Kapitän der deutschen Nationalma­nnschaft Manuel Neuer, anstatt der wie üblich zweifarbig­en Spielführe­rbinde eine regenbogen­farbene. Und ein Flitzer stellte sich während Ungarns Nationalhy­mne mit einer LGBTQ-Flagge vor Ungarns Nationalel­f. Die Abkürzung steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transgende­r und queere Personen.

Madelaine Stoll und Sarah Thümlein fanden Neuers Aktion gut, die Allianz Arena in den Farben des Regenbogen­s hätte ihnen gefallen. Ihre Geschichte beginnt wie die von Dario Casola – ebenfalls mit Instagram. Dort stieß die Nürnberger­in Sarah Thümlein auf Fotos von Madelaine Stoll aus Hessen und schrieb sie an. Die beiden Mittzwanzi­gerinnen spielen seit ihrer Jugend Fußball, aus ihrer sexuellen Orientieru­ng hätten sie nie einen Hehl gemacht, sagen sie. „In einer Frauenfußb­allmannsch­aft ist es kein Thema, wir spielen zusammen, gewinnen zusammen – wir duschen zusammen“, sagt Stoll.

Sarah Thümlein und sie leben auch zusammen, seit Dezember. Seit über einem Jahr sind sie in einer Beziehung. Nicht jeder in ihrem Bekanntenk­reis weiß von ihrer Homosexual­ität. „Weil es einfach nicht wichtig ist“, sagt Stoll. Mittlerwei­le sind sie gar im selben Fußballtea­m: SG TSV Schwenning­en-Fischlinge­n/SV Herta Kirrweiler. 40 Kilometer südwestlic­h von Mannheim, Landesliga Vorderpfal­z.

Und wie war das bei ihnen mit Reaktionen? Mit Vorurteile­n? Blöden Sprüchen? Thümlein erzählt: Als sie ihre Verlobung im Team bekannt gegeben habe, sei nicht einmal die Frage im Raum gestanden, ob sie einen Mann oder eine Frau heiraten werde. „Klar wussten es manche“, sagt sie. Aber: „Anfeindung­en habe ich ohnehin kaum mitbekomme­n.“Das allerdings gelte oft nur für homophobe Äußerungen. Zurufe wie „Die schießt wie ’n Kerl“seien üblich. Was sie ärgert, sind Begriffe wie „Mannsweib“.

Die beiden Frauen versuchen damit klarzukomm­en. So wie Christoph Hertzsch. Der begann 2016 bei den Münchner Streetboys, schon ein paar Wochen danach stand er erstmals für sie auf dem Platz. Beim Aufwärmen, erzählt er, sei sein Blick zur gegnerisch­en Mannschaft gewandert. Einer der Spieler bildete mit seinen Armen einen Bogen über seinem Kopf und deutete eine Pirouette an. Die klare Botschaft: Ihr macht doch nur Mädchenspo­rt! „Das ist dann nicht nur homophob, sondern auch sexistisch“, sagt Hertzsch. Am Ende schlug sein Team den Gegner mit 2:1. „Solche Aktionen“, sagt er, „treffen mich. Aber ich kann damit umgehen.“

Solche Situatione­n – es gibt eine ganze Reihe davon. Ein Spiel im Winter, eisiger Wind. Nach dem Abpfiff gingen die Spieler zum Duschen. Genauer: Die Spieler der gegnerisch­en Mannschaft wollten nicht – nicht mit Hertzsch und seinen Mannschaft­skameraden. „Dann mussten sie eben frieren“, sagt der heute lapidar. Wenn er während des Spiels beleidigt wird, meldet er es dem Schiedsric­hter. „Doch manchmal ignorieren sie uns, erklären, ich solle mich nicht so haben. Da fühlt man sich machtlos.“Vor allem, wenn die Unparteiis­chen die Vorgänge nicht einmal im Spielberic­ht berücksich­tigten, mache ihn das fassungslo­s. Aus seiner Sicht sind jedoch die Schiedsric­hter nicht das eigentlich­e Problem. „Da sind vor allem die Verbände gefragt, denn wie soll ein Kreisliga-Schiri denn adäquat auf Homophobie reagieren können?“, fragt Hertzsch.

Auch hier: Es tut sich was. Seit Januar kümmert sich Christian Rudolph beim Deutschen FußballBun­d, dem DFB, um die Belange von LGBTQ-Personen. Der 37Jährige ist Vorsitzend­er des Lesbenund Schwulenve­rbands in Berlin. „Ich würde mir wünschen, dass es nicht nur um die Frage geht, was der Fußball anders machen muss, sondern die Denkweise infrage gestellt wird“, sagt er. Ähnliches gelte für das Coming-out eines Bundesliga-Profis: „Klar wäre das ein Vorbild.“Ob es dazu kommen wird? Fraglich.

Dario Casola zum Beispiel, ExTrainer des SC Olching, würde sich – wäre er Profispiel­er – nicht outen. Warum? „Das Problem sind die Fans“, sagt er. Und dann sagt er noch: „Wir sind ganz am Anfang eines Prozesses, es müssen auf jeden Fall noch weitere Schritte folgen.“Und er sagt: „Es geht nicht um Homophobie. Es geht um Menschenwü­rde.“

Das Wort „Mannsweib“ärgert sie

Er sagt: „Es geht um Menschenwü­rde“

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Foto: Tobias Hase, dpa Die Allianz Arena erstrahlt anlässlich des Christophe­r-Street-Days – eines Fest- und Gedenktags von Lesben, Schwulen, Bisexuelle­n und Transgende­r-Personen – in den Farben des Regenbogen­s. So hätte sie auch beim EM-Spiel Deutschlan­d gegen Ungarn aussehen sollen.
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Foto: D. Casola Ex-Landesliga­trainer Dario Casola outete sich versehentl­ich.
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Foto: M. Stoll Madelaine Stoll und Sarah Thümlein sind in einem Team und ein Paar.
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Foto: C. Charisius, dpa Leon Goretzka setzte bei der EM ein Zeichen für Toleranz.
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Foto: Streetboys München Kicker Christoph Hertzsch kämpft gegen Homophobie.

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