Wenn Worte verletzender sind als Fouls
Noch immer bekennt sich kein aktiver Bundesliga-Profi zu seiner Homosexualität. Warum? Das hat auch mit Vorkommnissen zu tun, wie sie bei der Fußball-EM zu beobachten waren. Und auch Spielerinnen und Spieler in unteren Ligen machen bittere Erfahrungen
München Dario Casolas Outing beginnt mit einem Versehen. Der heute 35-Jährige war damals, 2018, Trainer des Fußball-Landesligisten SC Olching. 12000 Kilometer entfernt von dem Ort im Kreis Fürstenfeldbruck steht er an einem Strand in Argentinien und grinst in seine Handykamera. Dann nimmt er das Foto auf. Zu sehen ist er, wie ihm die Sonne ins Gesicht scheint, mit Drei-Tage-Bart und rasierten Schläfen. Im Hintergrund das Meer. Und neben ihm: Emiliano. „I love you“– ich liebe dich – schreibt Casola darunter, als er es ins soziale Netzwerk Instagram hochlädt.
Zu diesem Zeitpunkt sind Emiliano und er seit einem halben Jahr ein Paar. Casola denkt, dass nur seine Freunde das Foto sehen können. Doch sein Profil ist öffentlich. Seine Mannschaftskameraden können es genauso anschauen wie seine Familie. Dann schickt ihm sein Torwarttrainer eine Nachricht: „Dario, in Olching geht’s drunter und drüber. Du musst dich erklären.“
Musste er das wirklich? „Nein“, sagt Casola mit einer Spur Trotz in der Stimme. Die Reaktion seines Kollegen sei wohl etwas übertrieben gewesen, die subjektive Wahrnehmung trüge manchmal. Ein wenig Angst habe er dennoch gehabt, als er aus seinem Urlaub nach Deutschland zurückgekehrt sei, erinnert er sich. Kommen blöde Sprüche? „Hi Coach“sei die einzige Reaktion gewesen, die er von seiner Mannschaft erhalten habe.
Ist Dario Casola damit eine Ausnahme? Ist Homosexualität inzwischen im Fußball akzeptiert? Nicht nur Casola hat daran erhebliche Zweifel. Denn dass ein aktiver Profifußballer von selbst seine Homosexualität öffentlich gemacht hätte, das ist in Deutschland noch nicht vorgekommen. Erst zu Jahresbeginn rief die Redaktion des Fußballmagazins 11Freunde die Aktion „Wir unterstützen euch“ins Leben. Darin sichern über hundert Fußballerinnen und Fußballer ihre Unterstützung zu, wenn sich ein Spieler outen würde. Geschehen ist das bislang nicht. In seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch „Das Spiel. Die Welt des Fußballs“riet der frühere Nationalmannschaftskapitän Philipp Lahm Profifußballern sogar davon ab.
Vielleicht dachte er an den Briten Justin Fashanu. Der war 1990 der erste Fußballprofi, der es – wie es das Online-Lexikon Wikipedia vermerkt – „während seiner professionellen Spielertätigkeit wagte“, der Presse von seiner Homosexualität zu erzählen. Später sei er wegen seiner Sexualität vorverurteilt und zu Unrecht der Vergewaltigung eines Jungen bezichtigt worden, sagte Fashanu einmal. In seinem Abschiedsbrief schrieb er vom öffentlichen Druck, der ihn, im Alter von 37, in den Selbstmord treibe.
Ein Extrembeispiel? Grund zur Furcht vor möglichen Konsequenzen besteht durchaus, insbesondere in autoritär regierten Ländern. Anfang Juli ist in Ungarn unter scharfen Protesten, auch aus dem Ausland, ein Gesetz in Kraft getreten, das die Information über Homound Transsexualität beschränkt. Seitdem müssen etwa Bücher zum Thema den Hinweis „Verboten für unter 18-Jährige“tragen. Die EU reagierte mit einem Vertragsverletzungsverfahren, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán kündigte ein Referendum an.
Rückblende. Die Allianz Arena in München, 23. Juni, das Europameisterschafts-Spiel Deutschland gegen Ungarn, 86. Minute: Applaus im Stadion, Tor für Deutschland. Auf dem Platz bildet sich eine Jubeltraube aus deutschen Nationalspielern. Leon Goretzka formt mit seinen Fingern ein Herz und zeigt es in Richtung Tribüne. Dort stehen um die 200 Männer, manche mit freiem Oberkörper, andere in schwarzen Hemden. Der Großteil von ihnen: ungarische Hooligans der rechten Gruppierung „Carpathian Brigade“. Sie fielen während des Spiels und des gesamten Turniers wegen homophober Gesänge auf.
Goretzkas Herz ist ein Zeichen, auch an deutsche Fußballfans und -spieler. Auf Bayerns Fußballplätzen etwa, weit ab von der Glitzerwelt der Fußballmillionäre, ist Homophobie teilweise ein großes Problem. Zum Beispiel in München.
Dort musste Fußballer Christoph Hertzsch schon ganz andere Erfahrungen machen als Dario Casola. Bittere. Dabei ist es für den 33-Jährigen nicht einmal ein Wort wie „Schwuchtel“, das ihn schmerzt. Es ist mehr das, was Gegenspieler damit meinen. Wenn sie sagen: „Zwirble den Ball doch nicht so schwul in den 16er!“Oder: „Steh jetzt mal auf, du Schwuchtel!“Homosexualität gilt ihnen als „unmännlich“, „schlecht“, bedeutet für sie „verweichlicht“und „unfähig“. „Diese Assoziation ist natürlich nicht schön“, sagt Hertzsch, der seit nunmehr fünf Jahren beim einzigen „offen homosexuellen Fußballverein“im deutschen Ligabetrieb spielt. Die Streetboys München wurden 1994 gegründet – mit der Intention, Hobbyfußball in einem toleranten Umfeld betreiben zu können. Seit 1999 läuft das „Team München“in der C-Klasse auf.
Sechs Jahre zuvor, mit fünf, begann der Thüringer Christoph Hertzsch mit dem Fußball. Mit 14 merkte er, dass er sich zu anderen Jungen hingezogen fühlt. Bis er 16 war, wussten die meisten seiner Freunde und seine Familie darüber Bescheid. „Ich war geoutet, hatte kaum Probleme mit Homophobie“, erzählt er. Dann zog er für sein Studium nach Augsburg und suchte nach einem Fußballverein. Er googelte: „Augsburg Fußball schwul“. Kein Treffer. Irgendwann fand Hertzsch die Streetboys. Und mit ihnen einen Verein, der seinen Vorstellungen entsprach. Nicht etwa, weil er Angst vor einem Outing gehabt habe, sagt er. Er habe sich für sie entschieden wegen der gewachdemonstrativ senen, eingeschworenen Gemeinschaft, die sie seien.
Anders lief es für Dario Casola, für den der Fußball zunehmend unwichtiger wurde. Im Gegensatz zu seiner Liebe zu Emiliano, der 12 000 Kilometer entfernt von ihm in Argentinien lebte. Casola hörte schließlich als Trainer des FußballLandesligisten SC Olching auf und konzentrierte sich auf seine Arbeit als Versicherungskaufmann. Emiliano und er haben inzwischen geheiratet und wohnen bei Fürstenfeldbruck. Wenn Casola von ihm erzählt, gerät er ins Schwärmen. Er habe anfangs Furcht vor Ablehnung gehabt, erzählt er am Telefon. Davon ist heute nichts mehr in seiner Stimme zu spüren. Selbstbewusst sagt er: „Wenn jemand ein Problem mit meiner sexuellen Orientierung gehabt hätte, hätte ich meine Konsequenzen gezogen.“
Konsequenzen ziehen, entschieden handeln. Darum ging es vor kurzem auch während der Fußball-EM. Und schnell war das eine hochpolitische Diskussion, tagelang. Da mochte die Union Europäischer Fußballverbände, die Uefa, noch so sehr betonen, sie trenne strikt zwischen Sport und Politik. Es war also ein Politikum, als die Stadt München bei ihr beantragte, die Allianz Arena in Regenbogenfarben – dem Zeichen für Toleranz auch hinsichtlich sexueller Orientierungen – während des Spiels Deutschland gegen Ungarn erstrahlen zu lassen und die Uefa das nicht billigte. Dafür trugen Fußballprofis, darunter der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft Manuel Neuer, anstatt der wie üblich zweifarbigen Spielführerbinde eine regenbogenfarbene. Und ein Flitzer stellte sich während Ungarns Nationalhymne mit einer LGBTQ-Flagge vor Ungarns Nationalelf. Die Abkürzung steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und queere Personen.
Madelaine Stoll und Sarah Thümlein fanden Neuers Aktion gut, die Allianz Arena in den Farben des Regenbogens hätte ihnen gefallen. Ihre Geschichte beginnt wie die von Dario Casola – ebenfalls mit Instagram. Dort stieß die Nürnbergerin Sarah Thümlein auf Fotos von Madelaine Stoll aus Hessen und schrieb sie an. Die beiden Mittzwanzigerinnen spielen seit ihrer Jugend Fußball, aus ihrer sexuellen Orientierung hätten sie nie einen Hehl gemacht, sagen sie. „In einer Frauenfußballmannschaft ist es kein Thema, wir spielen zusammen, gewinnen zusammen – wir duschen zusammen“, sagt Stoll.
Sarah Thümlein und sie leben auch zusammen, seit Dezember. Seit über einem Jahr sind sie in einer Beziehung. Nicht jeder in ihrem Bekanntenkreis weiß von ihrer Homosexualität. „Weil es einfach nicht wichtig ist“, sagt Stoll. Mittlerweile sind sie gar im selben Fußballteam: SG TSV Schwenningen-Fischlingen/SV Herta Kirrweiler. 40 Kilometer südwestlich von Mannheim, Landesliga Vorderpfalz.
Und wie war das bei ihnen mit Reaktionen? Mit Vorurteilen? Blöden Sprüchen? Thümlein erzählt: Als sie ihre Verlobung im Team bekannt gegeben habe, sei nicht einmal die Frage im Raum gestanden, ob sie einen Mann oder eine Frau heiraten werde. „Klar wussten es manche“, sagt sie. Aber: „Anfeindungen habe ich ohnehin kaum mitbekommen.“Das allerdings gelte oft nur für homophobe Äußerungen. Zurufe wie „Die schießt wie ’n Kerl“seien üblich. Was sie ärgert, sind Begriffe wie „Mannsweib“.
Die beiden Frauen versuchen damit klarzukommen. So wie Christoph Hertzsch. Der begann 2016 bei den Münchner Streetboys, schon ein paar Wochen danach stand er erstmals für sie auf dem Platz. Beim Aufwärmen, erzählt er, sei sein Blick zur gegnerischen Mannschaft gewandert. Einer der Spieler bildete mit seinen Armen einen Bogen über seinem Kopf und deutete eine Pirouette an. Die klare Botschaft: Ihr macht doch nur Mädchensport! „Das ist dann nicht nur homophob, sondern auch sexistisch“, sagt Hertzsch. Am Ende schlug sein Team den Gegner mit 2:1. „Solche Aktionen“, sagt er, „treffen mich. Aber ich kann damit umgehen.“
Solche Situationen – es gibt eine ganze Reihe davon. Ein Spiel im Winter, eisiger Wind. Nach dem Abpfiff gingen die Spieler zum Duschen. Genauer: Die Spieler der gegnerischen Mannschaft wollten nicht – nicht mit Hertzsch und seinen Mannschaftskameraden. „Dann mussten sie eben frieren“, sagt der heute lapidar. Wenn er während des Spiels beleidigt wird, meldet er es dem Schiedsrichter. „Doch manchmal ignorieren sie uns, erklären, ich solle mich nicht so haben. Da fühlt man sich machtlos.“Vor allem, wenn die Unparteiischen die Vorgänge nicht einmal im Spielbericht berücksichtigten, mache ihn das fassungslos. Aus seiner Sicht sind jedoch die Schiedsrichter nicht das eigentliche Problem. „Da sind vor allem die Verbände gefragt, denn wie soll ein Kreisliga-Schiri denn adäquat auf Homophobie reagieren können?“, fragt Hertzsch.
Auch hier: Es tut sich was. Seit Januar kümmert sich Christian Rudolph beim Deutschen FußballBund, dem DFB, um die Belange von LGBTQ-Personen. Der 37Jährige ist Vorsitzender des Lesbenund Schwulenverbands in Berlin. „Ich würde mir wünschen, dass es nicht nur um die Frage geht, was der Fußball anders machen muss, sondern die Denkweise infrage gestellt wird“, sagt er. Ähnliches gelte für das Coming-out eines Bundesliga-Profis: „Klar wäre das ein Vorbild.“Ob es dazu kommen wird? Fraglich.
Dario Casola zum Beispiel, ExTrainer des SC Olching, würde sich – wäre er Profispieler – nicht outen. Warum? „Das Problem sind die Fans“, sagt er. Und dann sagt er noch: „Wir sind ganz am Anfang eines Prozesses, es müssen auf jeden Fall noch weitere Schritte folgen.“Und er sagt: „Es geht nicht um Homophobie. Es geht um Menschenwürde.“
Das Wort „Mannsweib“ärgert sie
Er sagt: „Es geht um Menschenwürde“