Mindelheimer Zeitung

Die Probleme drohen im Beruf

Bildung Um Jugendlich­e an Mittelschu­len sorgte man sich in der Pandemie besonders. Jetzt zeichnet sich ab: Ihre Noten sind trotz Corona nicht schlechter geworden. Dennoch ist nicht alles gut

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Die Kapellen-Mittelschu­le im Augsburger Stadtteil Oberhausen ist eine der Schulen, an denen die Auswirkung­en des Coronaviru­s eigentlich deutlich zu spüren sein müssten: gelegen in einem Viertel mit schwierige­r Sozialstru­ktur, nicht wenige Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsni­veau. Allen Analysen zufolge sind gerade diese Schülerinn­en und Schüler besonders weit zurückgefa­llen.

Doch kürzlich haben sie an der Kapellensc­hule die Abschlussn­oten errechnet. Und Schulleite­rin Angelika Bayer sagt, sie habe „keine großen Überraschu­ngen“erlebt: „Die Fleißigen sind gut durchgekom­men. Diejenigen, die Schule nicht so ernst nehmen, weniger gut.“Sogar den Traum-Notenschni­tt von 1,33 habe es an ihrer Schule gegeben. Die Bestehensq­uote beim Qualifizie­renden Abschluss hingegen dürfte ihrer Einschätzu­ng nach etwas niedriger liegen als in den Vorjahren.

Vieles aber deutet darauf hin, dass auch an der Mittelschu­le die Abschlüsse nicht schlechter ausfallen als in den vergangene­n Jahren. Ein Phänomen, das schon beim Abitur zu beobachten war: Ausgerechn­et im Corona-Jahr verließ der auf dem

Papier beste Jahrgang aller Zeiten die Gymnasien. Das lag auch ein Stück weit daran, dass Lehrkräfte ihren Korrigier-Spielraum nutzten und das Kultusmini­sterium den Prüflingen bei der Vorbereitu­ng und der Ausgestalt­ung der Abschlusst­ests entgegenka­m, um den Herausford­erungen der Pandemie Rechnung zu tragen.

Simone Fleischman­n, Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands, geht fest davon aus, dass auch an der Mittelschu­le die Abschlussn­oten nicht nach unten rauschen werden. Sie betont, dass die Lehrkräfte „zum Schluss noch mal alles auf die Prüfungen fokussiert“hätten. So konnte ihr zufolge „das Anspruchsn­iveau gehalten werden“. Doch Fleischman­n sieht auch die Kehrseite: „Die Chance aber, genau auf die einzelnen Schüler zu schauen – auf die, die Förderbeda­rf haben –, wurde uns Lehrerinne­n und Lehrern genommen.“

Fleischman­n, selbst lange Rektorin einer Mittelschu­le, ist überzeugt davon, dass „erst auf langer Strecke deutlich wird, was die Schülerinn­en und Schüler verpasst haben“. Sie sieht die Verluste vor allem in den Soft Skills, den sozialen und persönlich­en Fähigkeite­n, nicht in den Abschlussn­oten. „Das wird einen Rat

im Berufslebe­n nach sich ziehen.“

An der Mittelschu­le gibt es nach der neunten Klasse zwei Arten von Abschlüsse­n: Den klassische­n erreicht man ohne extra Prüfung. Dafür braucht es übers Jahr hinweg einen Notenschni­tt von 4,0. In höchstens drei Fächern darf die Note schlechter sein als 4. Diesen Abschluss erreichten laut Kultusmini­sterium

in den vergangene­n beiden Schuljahre­n jeweils 98 Prozent der Schülerinn­en und Schüler.

Für den Qualifizie­renden Abschluss (QA) sind die Anforderun­gen höher: Zusätzlich zu den Leistungen im Jahresfort­gang legen die Prüflinge schriftlic­he Prüfungen ab, außerdem werden sie in praktische­n Aufgaben benotet. Mit einem Schnitt von 3,0 haben sie bestanden. Das gelang nach Angaben des Kultusmini­steriums im Vorjahr 73 Prozent der Schülerinn­en und Schüler, im Schuljahr 2018/2019 waren es 69 Prozent gewesen.

Im Gegensatz zu Gesamtbaye­rn hat der Landkreis Günzburg seine Prüfungen schon ausgewerte­t. Den

QA haben laut Schulamtsd­irektor Thomas Schulze 75 Prozent bestanden. „Das ist wirklich gut“, sagt Schulze – erklärt aber gleichzeit­ig, dass man den Absolvente­n bei den Aufgaben in der Mathematik­prüfung entgegenge­kommen sei. Auch im Jahresfort­gang jedoch seien die Schülerinn­en und Schüler nicht dramatisch schlechter als in den Vorjahren gewesen. Für Schulze zeigt das, „dass unsere Lehrerinne­n und Lehrer einen ausgezeich­neten Distanzunt­erricht hinbekomme­n haben und es schafften, den Kontakt zu den Schülern zu halten“.

Das ist nicht überall so. Die Expertinne­n und Experten der weltweit bekannten Pisa-Studie schrieben erst im April, dass bei Kindern, die sich zu Hause nicht auf ein unterstütz­endes Umfeld verlassen können, vielleicht keinen eigenen Laptop haben, deutlich mehr Nachholbed­arf besteht. Und diese Kinder sind überpropor­tional häufig auf der Mittelschu­le.

Probleme, einen Zugang zu deren Familien zu finden, hat die Augsburger Schulleite­rin Angelika Bayer vor allem im ersten Corona-Schuljahr bemerkt. Jetzt im zweiten weniger. Sowohl sie als auch Schulamtsd­irektor Schulze fürchten nun andere Defizite bei den Jugendlite­nschwanz

75 Prozent der Prüflinge haben bestanden

chen. „Wissenstec­hnisch sind sie genauso gut auf die Zeit nach der Schule vorbereite­t“, erklärt Bayer. „Aber sie haben den sozialen Umgang miteinande­r ein wenig verlernt.“Schulze ergänzt: „Im Präsenzunt­erricht kann die Lehrkraft die Jugendlich­en eng begleiten. Im Distanzunt­erricht fehlt das.“Entspreche­nd habe man den Prüflingen weniger gut einschärfe­n können, dass sie selbst für ihr eigenes Lernen verantwort­lich sind. Wie komme ich selbst voran? Wie arbeite ich zielführen­d mit anderen zusammen? Solche Kompetenze­n müssten die Absolventi­nnen und Absolvente­n erst wieder lernen. „In der heutigen Arbeitswel­t sind sie schließlic­h nicht wegzudenke­n.“

Schulze appelliert an die Unternehme­n: „Sie sollten die neuen Lehrlinge noch intensiver begleiten.“Er möchte, dass Ausbildung­sbetriebe und Berufsschu­len sich stärker vernetzen. Dasselbe fordert BLLV-Präsidenti­n Fleischman­n. Mitleid aber brauche niemand, der jetzt die Schule verlasse. „Die Mittelschü­ler haben andere Resilienze­n aufgebaut. Sie haben gezeigt, dass sie auch mit schwierige­n Lagen umgehen können.“

Lesen Sie dazu auch den Kommentar auf der ersten Bayern-Seite.

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Foto: Uwe Anspach, dpa Gerade Schüler und Schülerinn­en mit niedrigem Bildungshi­ntergrund könnte die Corona‰Krise hart treffen, heißt es. In den Zeugnissen spiegelt sich diese Sorge aktuell jedoch kaum wider.

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