Die Suche nach dem Schnee von gestern
Tirol Jedes Jahr muss man weiter hinauf, um den Jamtalgletscher zu erreichen. In Galtür wird das Dahinschmelzen des weißen Giganten wehmütig beobachtet. Deswegen bietet der Alpin Club eine ungewöhnliche Wanderung an
Jedes Jahr muss man etwas weiter hinauf, um den Jamtalgletscher hoch über Galtür zu erreichen. Es geht über einen schmalen, oft gerölligen Weg und einige Altschneefelder. Irgendwann dann kommen sie, die großen Gesteinsbrocken mit rot aufgemalten Zahlen, die mit großem Abstand am Wegesrand liegen. 90. 95. 00. 05. 10. 15. Jahreszahlen. Wissenschaftliche Wegmarken. Und auf nüchterne Art Mahnmale. Wortloser kann man die Erwärmung der Erde und die damit verbundenen Folgen des Klimawandels nicht vor Augen führen. Vom 1990er Stein sind es noch etwa 700 Meter bis zum Beginn der Gletscherzunge. Vom 2015er Stein sind es achtzig Meter bis zu den ersten Ausläufern der Eisfläche. 80 Meter Eisverlust in nur sechs Jahren...
Bisher war es ein gutes Jahr für den Jamtalgletscher. Im Vergleich zu den Vorjahren außergewöhnlich kühl. Schnee bis in den Mai hinein. Und doch liegen einige bläulich schimmernde Eisflächen bereits frei. „Ausgeapert“nennen das die Glaziologen. Die schützende Schneeschicht über der Eisfläche fehlt. Andrea Fischer, blonde Kurzhaarfrisur, Sonnenbrille, hellroter Anorak, schiebt einen langen Stab in das Gletschereis. Mit dieser Methode prüft sie, wie dick die Gletscherzunge an dieser Stelle ist. Das Loch wurde zuvor mit Hilfe von Dampf gebohrt. Dann hat der Stab den Grund erreicht. „Circa sechs Meter“, sagt die Glaziologin. Alle zwei Wochen werden die Wissenschaftler nun hierher zurückkehren, um den Rückgang des Eises anhand dieses Pegelstabs zu dokumentieren. Jede Saison sei der Rückgang des Eises unterschiedlich, der dauerhaft negative Trend aber deutlich. „Wir gehen davon aus, dass an dieser Stelle nächstes Jahr kein Eis mehr sein wird“, sagt die 48-Jährige.
Es ist Juli. Schmelzwasser sucht sich seinen Weg durch das Eis. Vor allem entlang der schwarzen Gesteinsbrocken, den sogenannten Gletschertischen, welche die Sonnenwärme intensiver speichern. Im Gegensatz zu früher hält sich der Schnee, der im Winter fällt, nicht mehr auf den Eisflächen. 2050, davon ist die Forscherin überzeugt, wird der Jamtalgletscher Vergangenheit sein. „Der Gletscher zerfällt schon jetzt.“Ihre Arbeit beschreibt sie so: „Wir schauen dem Gletscher beim Sterben zu.“Um einen erstaunlichen Satz anzufügen: „Das ist eine einmalige Chance.“
Galtür liegt auf 1600 Metern über dem Meeresspiegel. Der Ort ist die zweithöchste Gemeinde Österreichs, nur Spiss im Tiroler Samnauntal liegt höher. In der Ortsmitte der 800-Einwohner-Gemeinde steht eine hübsche barocke Kirche, es gibt einen Dorfplatz, das Platzl, mit Bäcker und Bushaltestelle, dazu einige Hotels, Pensionen und Restaurants. Aus der Kirche ist Blasmusik zu hören. Während der Eiszeit vor 12 000 Jahren habe ein Gletscher sogar bis hierher gereicht, sagt Andrea Fischer, bevor sie in einen Geländewagen steigt und die Suche nach dem Schnee von gestern beginnt.
Seit drei Jahren bietet der Alpin Club Galtür geführte Wanderungen zum Jamtalgletscher an. Damals, als Greta Thunberg den Menschen so intensiv ins Gewissen redete, kamen die Mitglieder des Alpin Clubs auf die Idee, den Gästen im Ort den Gletscher nahezubringen. Auch um zu zeigen, wie sich der Klimawandel bereits in den Bergen auswirke. „Pfiad di Gletscher“haben sie die Tour getauft. Geradezu wehmütig klingt das. „Wir sehen den Schwund ja Jahr für Jahr“, sagt Sarah Mattle, die im Club für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Die Mitglieder haben Kontakt zu Andrea Fischer aufgenommen, die seit Jahren am Jamtalgletscher forscht. Die Glaziologin hat die Berg- und Wanderführer geschult. Gut angenommen werde nun die Tour. „Die meisten Gäste sind sehr berührt“, sagt Mattle.
Schon nach wenigen Fahrminuten
auf dem Weg zur Jamtalhütte besteht erster Erklärungsbedarf. Während der kleinen Eiszeit um 1850 sei das gesamte Tal mit Eis aufgefüllt gewesen, erklärt die Glaziologin und deutet vom Gebirgsbach ganz unten bis kurz unterhalb der felsigen Gipfel. 600 Meter dick sei das Eis einst gewesen. Kaum vorstellbar. Doch die obere Kante der einstigen Eisfläche ist ähnlich einer Schleifspur noch immer in die Landschaft gezeichnet. Alpenrosen und Latschenkiefern krallen sich jetzt an die Hänge. Und noch ein eisiges Überbleibsel gebe es in Sichtweite.
Für Laien ein Schutthügel, für Experten ein sogenannter Blockgletscher, also ein Gletscher, der komplett mit Geröll bedeckt ist. Andrea Fischers Finger zeigt dieses Mal nach links oben. Gute Überlebenschancen habe dieser versteckte Gletscher, weil er durch das Geröll sehr gut isoliert werde. Die Wissenschaftlerin hat schon zu Studienzeiten jede freie Minute in den Alpen verbracht. Mittlerweile lebt sie in Innsbruck, hat Physik und Umweltwissenschaft studiert, bevor sie sich der Gletscherforschung zuwandte.
Weiter in Richtung Jamtalgletscher. Zeit für Gespräche. Intensiv lebe man in Galtür noch mit dem Wetter. In den Bergen sei man von der Natur viel abhängiger als in der Stadt, sagt Sarah Mattle. „Wir merken hier, dass sich etwas verändert“, sagt die 34-Jährige, Brille, dunkle, schulterlange Haare. Die Wetter werden extremer. Mehr starker Regen, mehr Hagel – aber auch mehr warme Abende in Galtür, an denen man keine Jacke mehr brauche. Dabei laute doch ein gängiger Spruch hier: In Galtür ist es acht Monate Winter und vier Monate kalt.
Für die Wissenschaftler ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Der schmelzende Gletscher lege ein rasantes Tempo hin. „Wir müssen schauen, dass wir der Natur hinterherkommen“, sagt Andrea Fischer. Von 2003 bis 2017 sei am meisten Eis am Jamtalgletscher abgeschmolzen. „Das war der Peak“, erklärt Andrea Fischer. Die Situation habe sich aber nicht klimatisch verbessert, vielmehr gebe es mittlerweile deutlich weniger Eis dort oben, das überhaupt abschmelzen könne.
900 Gletscher gibt es in Österreich. Der Jamtalgletscher ist der größte der Tiroler Silvretta. Er gilt auch als der am besten erforschte in Österreich. Glaziologen, Botaniker, Umwelthistoriker und Klimaforscher des Instituts für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften treffen hier aufeinander, um die Veränderungen zu dokumentieren. „Es ist ein Abtasten des Gletschers“, beschreibt Andrea Fischer ihre Arbeit. „Damit wir wirklich einmal alle Zustände gesehen haben, bevor er verschwunden ist.“Die höchste Stelle des Jamtalgletschers liege mit 3200 Meter zu niedrig, jedenfalls wenn es darum geht, als Gletscher diese Zeiten zu überstehen. Es ist zu warm auf der Höhe. Das Eis schmilzt „unheimlich schnell dahin“, sagt die Glaziologin. Gletscher auf über 4000 Höhenmetern hätten längere Überlebenschancen.
Seit 1907 ist der Jamtalgletscher um zwei Drittel bis drei Viertel zurückgegangen. Sechs Meter verliere er jedes Jahr an der Zunge, oben am Gipfel eineinhalb Meter. Je weiter sich das Eis zurückzieht, umso mehr erobern sich die Pflanzen die grauen Schotterflächen. Nach drei Jahren ohne Eis kartieren die Biologen bereits 20 Pflanzenarten. Vereinzelt haben sich Lärchen angesiedelt. Huflattiche und Soltanellen, die aussehen wie violette Sonnenschirme, blinzeln zart aus dem Grau hervor. Künftig geht es auch darum: über mögliche Felsstürze, Murenabgänge und Schuttströme zu lernen. Und auch darum, ob Orte künftig besser geschützt werden müssen, wenn das Geröll nicht mehr durch das Eis gehalten wird. Denn der Charakter der Landschaft werde sich verändern. „Wir lernen gerade so viel, weil wir die Sensitivität eines Gletschers erleben.“Andrea Fischer ließ Kameras oben am Gletscher aufstellen, „um noch mehr über die Natur und unsere Zukunft zu lernen“. Das ist es also, was sie als Chance versteht.
In der vierten Generation betreibt die Familie Lorenz die Jamtalhütte. Wer zum Gletscher will, kommt hier vorbei. Albert Einstein übernachtete hier einst, Ernest Hemingway ebenfalls. Der Urgroßvater von Gottlieb Lorenz war eine Bergsteigerlegende. Er führte Touren bis ins Pamir-Gebirge in Zentralasien. Gottlieb Lorenz, schulterlange Haare, Hüttenwirt ganz durch und durch, erzählt von früher, wie einfach es hier einst zugegangen sei. Inzwischen ist die gut ausgebaute Hütte eine Station des kulinarischen Jakobswegs. Speckknödelsuppe, Kässpatzn und Spaghetti Bolognese sind die Klassiker der Hüttenpilgerer. Aber eines ist über Generationen hinweg geblieben, erklärt Lorenz. „Wir arbeiten hier so, dass wir auch eine Zeitlang autark sein können.“Die Natur sei immer für Überraschungen gut. Fünf Wochen könne er die Hütte führen, „ohne dass ich etwas brauche“, erklärt der 60-Jährige. 20 000 Übernachtungen hat er auf der Jamtalhütte in einer normalen Saison. Schon jetzt beobachtet Lorenz mehr Felsstürze. Wie wird es sein, wenn der Gletscher nicht mehr da ist? Es tue schon „weh, wenn man sieht, wie viel Wasser runterkommt“. Natürlich werde es auch ohne Gletscher weitergehen. Aber der Jamtalhütte würde etwas fehlen. „Es ist ein schöner Talabschluss.“Und schließlich war er immer da, der Jamtalferner. Nicht nur seit er zurückdenken könne.