Fred Uhlman: Der wiedergefundene Freund (6)
Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundschaft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verachten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich
Und wir sprachen über Mädchen. Gemessen an der aufgeklärten heutigen Jugend war unsere Haltung unglaublich naiv. Für uns waren Mädchen höhere Wesen von märchenhafter Reinheit, denen man sich nur als Troubadour nähern durfte, mit ritterlicher Hingabe und in scheuer Anbetung. Ich kannte sehr wenige Mädchen. Daheim tauchten gelegentlich zwei Kusinen auf, alberne Teenager, die nicht im mindesten Andromeda oder Antigone glichen. Von einer weiß ich nur noch, dass sie sich ständig mit Schokoladetorte vollstopfte, und der anderen erstarb die Stimme, sobald ich mich sehen ließ. Konradin hatte mehr Glück. Er traf wenigstens Mädchen mit so aufregenden Namen wie Gräfin von Platow oder Baronin Henckel von Donnersmarck. Sogar eine Jeanne de Montmorency war darunter – er gestand, dass er schon einige Male von ihr geträumt habe.
In der Schule wurde kaum über Mädchen gesprochen, wenigstens
nach unserem Eindruck. Vielleicht tat sich da aber einiges hinter unserem Rücken, denn wie der KaviarKlub hielten wir uns meist abseits. Im Rückblick will mir doch immer noch scheinen, als ob selbst die Jungen, die sich mit Abenteuern brüsteten, eher Angst vor Mädchen hatten. Schließlich gab es noch kein Fernsehen, das sexuellen Anschauungsunterricht bot.
Es geht mir jedoch nicht darum, diese Art von Unschuld zu werten. Ich konstatiere sie nur als einen Aspekt unseres Zusammenlebens. Wenn ich von unseren Hauptinteressen, unseren Sorgen, Freuden und Problemen erzähle, so deshalb, weil ich unsere Gemütsverfassung vergegenwärtigen und verständlich machen möchte.
Unsere Probleme suchten wir selbständig, ohne Beistand zu lösen. Nie fiel uns ein, unsere Eltern um Rat zu fragen. Nach unserer Überzeugung gehörten sie einer anderen Welt an, sie würden uns entweder nicht verstehen oder uns nicht ernst nehmen. Wir sprachen kaum über sie; sie schienen uns so fern wie die Spiralnebel; sie waren uns zu erwachsen, zu sehr in diesen oder jenen Konventionen erstarrt. Konradin wusste, dass mein Vater Arzt war. Ich wusste, dass sein Vater Botschafter in Griechenland, in der Türkei und in Brasilien gewesen war. Mehr wollten wir eigentlich nicht wissen. Vielleicht erklärt dies, warum wir uns noch nie zu Hause besucht hatten. Wenn wir diskutierten, schlenderten wir die Straßen auf und ab oder saßen auf einer Bank oder stellten uns – falls es regnete – unter einen Hauseingang.
Eines Tages, als wir gerade vor unserem Hause standen, ging mir durch den Kopf, dass Konradin noch nie mein Zimmer, meine Bücher, meine Sammlungen gesehen hatte, und ich sagte ganz spontan: „Willst du nicht hereinkommen?“
Da er auf meine Einladung nicht gefasst war, zögerte er einen Augenblick, aber dann ging er mit.
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Mein Elternhaus, eine einfache Villa aus örtlichem Werkstein, stand in einem kleinen Garten mit Kirschund Apfelbäumen in der Höhenlage Stuttgarts. Hier wohnten die wohlhabenden oder reichen Bürger dieser Stadt, einer der schönsten und blühendsten Städte Deutschlands.
Von Hügeln und Weinhängen umgeben, liegt sie in einem so engen Talkessel, dass nur wenige Straßen im Talgrund verlaufen; die meisten streben die Höhen hinauf, sobald man die das Zentrum durchziehende Königstraße verlässt. Der Blick von den Höhen bot ein reiches Bild: Tausende von Villen ringsum, im Zentrum das Alte und das Neue Schloss, die Stiftskirche, das Opernhaus, Museen und die ehemals königlichen Parkanlagen. Überall gab es Höhenrestaurants, auf deren ausladenden Terrassen die Stuttgarter an den warmen Sommerabenden saßen, ihren schwäbischen Wein tranken und Unmengen von Speisen vertilgten: Kalbsbraten mit Kartoffelsalat, panierte Schnitzel, Bodenseefelchen, Schwarzwaldforellen, Rehrücken mit Spätzle und Preiselbeeren, Maultaschen und wer weiß, was sonst noch, und zum Nachtisch eine Fülle prächtiger Kuchen, mit Schlagsahne gekrönt. Wenn sie sich entschlossen, vom Essen aufzusehen, konnten sie zwischen Bäumen und Lorbeerbüschen hinausschauen auf die weitgebreiteten Wälder oder hinab in das Tal des Neckars, der zwischen Felsen, Burgen, Pappelbäumen, Weinhängen und alten Städten nach Heidelberg floss, dem Rhein und der Nordsee entgegen. Wenn die Nacht einfiel, wurde der Ausblick so zauberhaft wie von Fiesole
hinab auf Florenz: Tausende von Lichtern in der warmen Luft, die nach Jasmin und Flieder duftete, und ringsum Stimmengewirr, das Singen und Lachen zufriedener Bürger, schläfrig vom allzu reichlichen Essen oder liebeslustig vom allzu reichlich genossenen Wein.
Drunten, in der vor Hitze brodelnden Stadt, erinnerten die Namen der Straßen und Plätze die Schwaben an ihr reiches Geisteserbe, an Hölderlin, Schiller, Mörike, Uhland, Wieland, Hegel, Schelling, David Friedrich Strauß, Hesse und bestärkten sie in ihrer Überzeugung, außerhalb Württembergs sei das Leben kaum lebenswert und weder Bayern noch Sachsen und noch weniger die Preußen könnten ihnen das Wasser reichen. Dieser Stolz war nicht ganz unberechtigt. Städte wie Manchester oder Birmingham, Bordeaux oder Toulouse konnten sich mit der Oper, dem Theater, den Museen, den Sammlungen und der Lebenskraft dieser Stadt nicht messen.
Auch ohne König war Stuttgart noch immer eine Hauptstadt, umgeben von blühenden kleinen Städten, mit den Rokokoschlössern Solitude und Monrepos am Rand des Stadtgebietes, mit den nahen Albbergen Hohenstaufen, Teck und Hohenzollern und im weiteren Umkreis mit Schwarzwald und Bodensee, mit den Klöstern Maulbronn und Beuron und mit den Barockkirchen Zwiefalten, Neresheim und Birnau.
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Von unserem Haus aus konnten wir nur die Gärten und die roten Dächer der Villen jener Leute sehen, die wohlhabender waren als wir und sich darum eine Aussichtslage leisten konnten, aber mein Vater war entschlossen, es eines Tages diesen Großbürgern gleichzutun. Bis dahin genügte uns auch unser Haus, das immerhin eine Zentralheizung, vier Schlafzimmer, ein Esszimmer, einen Wintergarten und die Praxisräume meines Vaters aufwies. Mein Zimmer lag im zweiten Stock, und von dieser Höhe hat man auch schon einen Blick auf die Stadt und ins Land. Ich hatte es nach meinem Geschmack eingerichtet. An den Wänden hingen ein paar Reproduktionen: Cézannes Junge in roter Weste, van Goghs Sonnenblumen, einige japanische Holzschnitte. Daneben standen meine Bücher: die deutschen Klassiker, Schiller, Kleist, Goethe, Hölderlin, und natürlich „unser“Shakespeare, ebenso wie Rilke, Dehmel und George. Von den Franzosen besaß ich Baudelaire, Balzac, Flaubert und Stendhal, von den Russen den ganzen Dostojewski, Tolstoi und Gogol. »7. Fortsetzung folgt