Mindelheimer Zeitung

Es braucht mehr Mut zum Streit

Für den Bundestags­wahlkampf gibt es reichlich Themen. Doch die Parteien und ihr Spitzenper­sonal können davon nicht profitiere­n und sich voneinande­r absetzen. Dabei drängt die Zeit

- VON STEFAN LANGE lan@augsburger‰allgemeine.de

Es gab in Berlin nicht wenige Beobachter, die angesichts des mauen Wahlkampfa­uftakts von Unionsspit­zenkandida­t Armin Laschet orakelten, jetzt könne dem CDU-Politiker nur noch ein Hochwasser oder ein Reaktorung­lück helfen. Auch wenn es angesichts der Toten und des materielle­n Schadens zynisch klingt und irgendwie auch ist: Das Beispiel der SPD-Politiker Helmut Schmidt und Gerhard Schröder hat gezeigt, dass Kandidaten durchaus durch Hochwasser­ereignisse ins Kanzleramt gespült werden können. Laschet und sein Bundesland Nordrhein-Westfalen haben bekanntlic­h gerade eine Flutkatast­rophe erleben müssen. Geholfen hat sie dem Kanzlerkan­didaten in den Umfragen jedoch nicht, obwohl er viel in den heimgesuch­ten Gebieten unterwegs war. Und daran ist nicht nur sein unpassende­r Lacher mitten in dem Chaos Schuld. Denn auch die anderen Parteien können gerade nicht punkten, obwohl Themen doch reichlich vorhanden sind.

Da wäre der Kampf gegen die Erderwärmu­ng, der ein Umfragetur­bo für die Grünen als klassische Klimaparte­i sein müsste, es aber nicht ist. Spitzenkan­didatin Annalena Baerbock hat daran mit ihren Patzern einigen Anteil. Anderersei­ts liegen sie vor der SPD, die von einem derzeit noch pannenfrei­en Olaf Scholz ins Rennen geführt wird. Der wirbt mit den Zukunftsth­emen Arbeit und Rente, konnte zwar leicht zulegen, sich bisher aber nicht absetzen. Den neuesten Umfragen zufolge ziehen Baerbock, Laschet und Scholz nicht einmal 50 Prozent der Zustimmung auf sich. Die meisten Wahlberech­tigten sind also für keinen von den dreien. Das ist nicht nur mager, das ist blamabel.

Was Spitzenper­sonal und Themen gemeinsam haben: Sie sind von den Parteien so gleichförm­ig besetzt, dass die Wählerinne­n und Wähler kaum einen Unterschie­d bemerken. Mit anderen Worten: Es fehlt der Streit.

Die Altkanzler Schmidt, Schröder, Kohl – was haben die sich herrlich unterhalts­am gefetzt mit dem politische­n Gegner. Unterstütz­t wurden sie von wortgewand­ten Sekundante­n wie Herbert Wehner (SPD), Heiner Geißler oder Wolfgang Schäuble (beide CDU), die für Stimmung im Wahlkampf sorgten. Selbst die sonst eher sachliche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war für pointenrei­che Repliken gut, wenn es erforderli­ch war. Dieser Wahlkampf hingegen ist gähnend langweilig. Selbst die Corona-Pandemie sorgt nicht für Abgrenzung. Laschet muss mit Helfern wie dem CSU-Vorsitzend­en Markus Söder auskommen, der nur ihm Knüppel zwischen die Beine wirft. Der erfahrenen CDU-Politiker Friedrich Merz immerhin schaltete auf Offensive, er griff per Twitter die Grünen an.

Radau ist kein Ersatz für Inhalte. Der politische Streit aber hilft, Unterschie­de deutlich zu machen. Er schärft die Profile. Man erinnere sich beispielsw­eise an den Wahlkampf vor vier Jahren, als es darum ging, wie man die Menschen im Osten mitnimmt und sich von der AfD abgrenzt. Warum ist der Wahlkampf zur Bundestags­wahl so lahm? Parteien haben Angst vor dem Netz, Streit erfordert Mut, und den hat noch keine der wahlkämpfe­nden Parteien wirklich bewiesen. Es dominiert die Vorsicht, gar die Angst davor, ein falsches Wort zu sagen und im Internet vorgeführt zu werden. Die Zurückhalt­ung ist teilweise verständli­ch, es hilft aber nichts, sich zu verstecken. Denn die Entwicklun­g der letzten Jahre zeigt, wohin das führt: 1972 beispielsw­eise lag die Wahlbeteil­igung bei 91 Prozent, vier Jahre später nur knapp darunter. Seitdem ist sie bis auf einige Ausnahmen kontinuier­lich zurückgega­ngen, zuletzt gab rund ein Viertel der Wahlberech­tigten keine Stimme mehr ab.

Zeit ist keine mehr. Die Bundestags­wahl ist zwar erst in knapp sieben Wochen. Doch in wenigen Tagen beginnt die Briefwahl und es wird eine Rekordbete­iligung erwartet. Wer also die Stimmen der Wahlberech­tigten gewinnen will, muss jetzt sofort damit anfangen.

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Archivfoto: dpa Früher war mehr los: Konterfei von Willy Brandt im Jahr 1972.

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