Mindelheimer Zeitung

In Afghanista­n regiert nur noch die Angst

Konflikte Immer weitere Städte nehmen die Taliban ein. Mit ihrem Vormarsch wächst auch die Sorge, was mit dem Land geschieht. Vor allem jene, die für eine Zukunft des geschunden­en Volkes am Hindukusch kämpften, bangen um ihr Leben. Ein Ortsbesuch

- VON DANIEL BÖHM

Kabul Ausgerechn­et Kundus. Ausgerechn­et die Stadt, die wie keine andere für den deutschen Einsatz in Afghanista­n stand, ist gefallen. Hier befand sich das „Camp Pamir“der Bundeswehr. Hier waren noch im letzten Jahr rund hundert Ausbilder in Kundus stationier­t. Und hier war es, wo im Jahr 2009 deutsche Truppen einen von den Taliban entführten Tanklastzu­g bombardier­en ließen und hundert Afghanen dabei starben. Kundus wurde zu einem Symbol: für die Hoffnung des Westens, für die Brutalität des Krieges und die Frage nach dem Sinn.

Jetzt stellt sich diese Frage nicht mehr. Am Sonntag eroberten die radikalisl­amischen Taliban-Milizen Kundus. Es ist die erste große Provinzhau­ptstadt, die seit dem Abzug der US Truppen fällt – und der vorläufige Höhepunkt eines Siegeszuge­s, mit dem die Taliban einen Distrikt nach dem anderen erobern.

Die Amerikaner sind drauf und dran, ihre letzten Truppen zu evakuieren. Die Deutschen haben das Land schon vor Wochen verlassen. Und jetzt reisen auch noch die meisten Zivilisten und Mitarbeite­r internatio­naler Organisati­onen aus. Die Afghanen bleiben sich selbst überlassen. 20 Jahre nachdem Deutschlan­d 2001 im Schlepptau der Amerikaner in den Hindukusch zog, droht das Land zurück in die Finsternis zu fallen, in der es sich vor dem Einmarsch des Westens befunden hatte.

In Kabul, der Hauptstadt, herrscht eine seltsame Mischung aus Ruhe und Anspannung. Es ist, als ob jeder auf den kommenden Sturm warten würde. Ellinor Zeino, die Bürochefin der Konrad-AdenauerSt­iftung, ist die einzige verblieben­e deutsche Stiftungsl­eiterin in der Stadt. „Ich schaue von Tag zu Tag“, sagt sie. „Man hat ja keine Ahnung, was als Nächstes passiert.“Zeino sitzt auf gepackten Koffern. Wenn sich die Lage verschlimm­ere, wird die Stiftung ihr Büro schließen und ins Ausland verlegen.

In ihrem Garten lädt sie aber immer noch jeden Monat zum deutschen Stammtisch. Dann kommen alle, die noch da sind, reden über die Probleme im Land und freuen sich auf ein üppiges Büfett. Über ihnen kreisen die Helikopter der abziehende­n Amerikaner. Organisier­t wird der Stammtisch im Garten der Adenauer-Stiftung von Gulrahim Safi, einem schnauzbär­tigen Deutsch-Afghanen aus Berlin. „Deutschlan­d und Afghanista­n verbindet vieles. Die Deutschen haben hier gute Arbeit geleistet“, sagt Safi, der im afghanisch­en Bildungsmi­nisterium arbeitet. „Deshalb ist es wichtig, die Kontakte auch in Zukunft aufrechtzu­erhalten.“

Wie das gehen soll, bleibt unklar. Die Taliban rücken weiter vor.

Trotzdem hofft Safi, dass die Islamisten nicht wieder das ganze Land beherrsche­n und in die Isolation treiben werden wie in den 90ern. „Ich glaube nicht, dass die Taliban alle Städte erobern“, sagt er. „Dieser Konflikt lässt sich nicht mit Gewalt lösen. Zudem können auch die Taliban dieses Land nicht regieren ohne gebildete Leute und Kontakte zum Ausland.“Safi glaubt, man hätte Teile der Islamisten schon früher aus einer Position der Stärke heraus einbinden sollen. Jetzt ist es dafür zu spät. Trotzdem macht er weiter: „Ich kann nicht einfach so weggehen“, sagt er. „Ich bin zwar Deutscher, aber auch Afghane.“

Inzwischen könnte jeder der deutschen Stammtisch­e der letzte sein. Nur wenige Leute kommen noch regelmäßig: Diplomaten, die normalerwe­ise in ihren Hochsicher­heitsbunke­rn sitzen, oder ein paar wenige Akademiker, die noch nicht abgehauen sind. Die meisten der Gäste sind jedoch Männer wie der Bauunterne­hmer Wais Paschtun. Der 43-Jährige kam 1988 als Kind afghanisch­er Flüchtling­e nach Deutschlan­d und besitzt die doppelte Staatsange­hörigkeit. Wie so viele kehrte er nach dem US-Einmarsch im Jahr 2001 in die Heimat seiner Eltern zurück, um sein Glück zu versuchen.

habe all mein Geld in Afghanista­n investiert“, sagt Paschtun, der in der Nähe von Hamburg aufgewachs­en ist. „Das bekomme ich nie mehr raus.“Zeitweise beschäftig­te er in seiner Baufirma tausende Mitarbeite­r. Kabul sei mal eine Goldgrube gewesen. Damals, in den Nullerjahr­en, als plötzlich Milliarden­beträge in die Stadt gepumpt wurden. Nun hat die düstere Gegenwart Paschtuns Leben eingeholt.

Längst ist sein Haus voller Flüchtling­e, weil seine Verwandtsc­haft aus der Stadt Kandahar vor den Taliban zu ihm nach Kabul geflohen ist. Und als einflussre­icher Unternehme­r, der auch für die US-Truppen tätig war und Zugang bis in höchste Regierungs­kreise hat, steht er auf der Abschussli­ste der Islamisten. „Wenn die Taliban nach Kabul kommen, dann bin ich tot“, sagt er. „Mein Vater redet mir ins Gewis„Ich sen: Junge, beweg deinen Arsch da raus.“

Immerhin kann Wais Paschtun mit seinem deutschen Pass ausreisen. Die Mehrheit der Afghanen hat diese Möglichkei­t nicht – und nach dem Fall von Kundus wird deren Lage immer kritischer. Zu ihnen gehören auch all die Ortskräfte der Bundeswehr, die einst in Städten wie Kundus oder Masar-i-Sharif für die deutschen Truppen gekocht oder übersetzt haben.

Immer noch stecken Tausende von ihnen in Afghanista­n fest und warten auf ein Visum. Zwar hat die Bundesregi­erung angekündig­t, sich um die Fälle kümmern zu wollen. Aber der Prozess läuft quälend langsam. „Es ist beschämend, wie unsere Regierung damit umgeht,“sagt Marcus Grotian. Er war 2011 selbst als Bundeswehr­soldat in Kundus stationier­t und betreibt inzwischen zwei „Safe-Houses“in Kabul, wo hunderte ehemalige afghanisch­e Ortskräfte darauf warten, endlich eine Ausreisege­nehmigung zu bekommen. Da sie für die ausländisc­hen Militärs gearbeitet haben, gelten viele von ihnen als gefährdet.

Derweil rücken die Taliban immer weiter auf Kabul vor. Bereits jetzt werden deren Kämpfer in der Stadt vermutet. Letzte Woche schlugen sie bereits zu, griffen das

Haus des Verteidigu­ngsministe­rs an und erschossen den Sprecher der Regierung. „Ich glaube nicht, dass die Zeit reicht, um den Ortskräfte­n Visa auszustell­en“, sagt Grotian daher. „Es ist ein Desaster.“

In der Hauptstadt macht sich nun eine Mischung aus Tristesse und Verzweiflu­ng breit. Man fühle sich vergessen und auch verraten, sagt etwa die Journalist­in Schuhofa Dastgeer, die sich noch gut an ihre Jugend unter der Taliban-Herrschaft der 90er Jahre erinnern kann. Damals wurde sie heimlich von ihren Eltern unterricht­et. Heute arbeitet sie als Moderatori­n für Tolo-News, dem wichtigste­n unabhängig­en Nachrichte­nsender des Landes.

Für eine in der Öffentlich­keit stehende berufstäti­ge Frau wie Dastgeer könnte die Zukunft unter den Islamisten düster werden. Trotzdem findet sie es nicht grundsätzl­ich falsch, dass sich die ausländisc­hen Truppen aus Afghanista­n zurückzieh­en. „Irgendwann müssen wir auf eigenen Beinen stehen. Aber der Zeitpunkt war falsch und die Amerikaner und Europäer sind zu schnell gegangen. So haben sie das Land den Taliban ausgeliefe­rt.“

Man könne das jetzt alles rauf und runter analysiere­n, sagt der Politologe Omar Sharifi, der ein amerikanis­ch-afghanisch­es Studienzen­trum leitet. „Es gibt viele Gründe, warum es nicht gelungen ist, hier einen funktionie­renden Staat aufzubauen, und warum jetzt alles zusammenbr­icht. Aber das ist nicht mehr wichtig. Es geht jetzt darum, dass wir hier sterben werden.“

Sharifi sitzt im Garten seines Hauses, umgeben von hohen Mauern aus Stacheldra­ht. In den 90er Jahren hatten ihn die Taliban einst eingesperr­t. Vor kurzem wurde er

„Man hat ja keine Ahnung, was als Nächstes passiert“

„Es geht jetzt darum, dass wir hier sterben werden“

sogar angeschoss­en. Und am Sonntag musste er dann erfahren, dass sein Elternhaus in Kundus niederbran­nte, als die Taliban dort einmarschi­erten.

Sharifi gehört zu jener Schicht Afghanen, die gebildet und weltoffen ist, ohne aber die Verbindung zu ihrem Land verloren zu haben. Ein Visum hat er bisher keines. So kann er nur ausharren und abwarten, was geschehen wird. Illusionen macht er sich keine. „Wir haben es hier mit einer religiös-faschistis­chen Bewegung zu tun, die keine Gnade kennt“, sagt er. All die Ausländer, Doppelstaa­tler und NGO-Mitarbeite­r, ist Sharifi überzeugt, würden Afghanista­n demnächst verlassen. Die Taliban würden sie niemals dulden. „Und trotzdem“, sagt er in die Kabuler Nacht hinein, die inzwischen über seinem Garten angebroche­n ist, „müssen wir den Kontakt zur Außenwelt unbedingt aufrechter­halten. Nur so kann Afghanista­n irgendwie überleben. Denn wenn wir vergessen werden, dann sind wir endgültig tot“.

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Foto: Abdullah Sahil, dpa Taliban‰Kämpfer halten an einem Kontrollpu­nkt in der Stadt Kundus Wache. Die militanten Islamisten haben in den letzten Wochen ihren Vorstoß in weiten Teilen Afghanis‰ tans verstärkt. Der Westen schaut hilflos zu.

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