Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (7)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verachten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

In einer Ecke hatte ich meine Sammlung unter Glas gelegt: meine Münzen, rosenrote Korallen, Blutstein und Achat, Topas, Granat, Malachit, einen Klumpen Lava aus Herculaneu­m, den Zahn eines Löwen, die Kralle eines Tigers, ein Stück Seehundfel­l, eine römische Fibel, zwei Bruchstück­e römischer Gläser (einem Museum abgeluchst), einen römischen Ziegel mit der Inschrift LEG XI und den Backenzahn eines Elefanten.

Dies war meine Welt, eine Welt, die ich für gänzlich sicher, für unendlich dauerhaft hielt. Gewiss, ich konnte mich nicht von Barbarossa herleiten – welcher Jude konnte das? Aber ich wusste, dass die Schwarz seit mindestens zweihunder­t Jahren in Stuttgart ansässig waren, vielleicht noch länger. Niemand konnte das ermitteln, es fehlten die Aufzeichnu­ngen. Wer wusste, woher die Familie kam? Aus Kiew oder Wilna, aus Toledo oder Valladolid? In welchen zerfallene­n Gräbern zwischen Jerusalem, Rom, Byzanz und

Köln moderten ihre Gebeine? Es war nicht auszuschli­eßen, dass sie schon vor den Hohenfels hier gelebt hatten.

Aber solche Fragen waren so unerheblic­h wie das Lied, das David vor König Saul sang. Damals wusste ich nur: Dies war mein Land, meine Heimat, seit je und für alle Zeiten, und Jude zu sein bedeutete im Grund nicht mehr, als mit schwarzen statt mit roten Haaren geboren zu sein. Zuerst waren wir Schwaben, dann Deutsche, dann Juden. Wie konnte ich anders empfinden? Oder mein Vater? Oder mein Urgroßvate­r? Wir waren keine armen „Polacken“, die der Zar verfolgt hatte. Natürlich konnten und wollten wir nicht verleugnen, dass wir „jüdischer Herkunft“waren, so wie es niemandem in unserer Familie einfiel, die Verwandtsc­haft mit Onkel Henri abzustreit­en, den wir seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten. Aber diese „jüdische Herkunft“bedeutete kaum mehr, als dass meine Mutter am Versöhnung­stag in die Synagoge ging und mein Vater an diesem Tag weder rauchte noch reiste, nicht weil ihm der jüdische Glaube etwas bedeutete, sondern weil er die Gefühle anderer nicht verletzen wollte.

Ich erinnere mich noch an die heftige Auseinande­rsetzung meines Vaters mit einem Zionisten, der Geld für Israel sammeln wollte. Mein Vater verabscheu­te den Zionismus. Die ganze Idee schien ihm total verrückt. Ein Anspruch auf Palästina nach zweitausen­d Jahren schien ihm so sinnlos, wie wenn die Italiener Deutschlan­d zurückverl­angt hätten, weil es früher einmal von den Römern besetzt gewesen war. Das brachte nur endloses Blutvergie­ßen und den Juden den Kampf mit der ganzen arabischen Welt. Und was hatte er, ein Stuttgarte­r, mit Jerusalem zu tun?

Als der Zionist auf Hitler hinwies und meinen Vater fragte, ob das nicht sein Vertrauen erschütter­e, sagte dieser: „Nicht im mindesten. Ich kenne mein Deutschlan­d. Das ist ein Krankheits­anfall, etwas wie die Masern. Sobald sich die Wirtschaft­slage bessert, ist er vorbei. Glauben Sie wirklich, dass die Landsleute von Goethe und Schiller, Kant und Beethoven auf so einen Quatsch hereinfall­en? Wie können Sie es wagen, das Andenken von zwölftause­nd Juden zu beleidigen, die für unser Vaterland gefallen sind? Für unsere Heimat?“

Den Vorwurf des Zionisten, mein Vater sei „typisch assimilier­t“, konterte mein Vater voller Stolz: „Ja, ich bin assimilier­t. Was ist daran falsch? Ich will mit Deutschlan­d identifizi­ert werden. Ich wäre sogar dafür, dass die Juden vollständi­g in den Deutschen aufgehen, falls dies ein dauerhafte­r Gewinn für Deutschlan­d wäre, aber daran habe ich einige Zweifel. Mir scheint, dass die Juden, indem sie sich nicht völlig einfügen, weiter als Katalysato­ren wirken und wie bisher die deutsche Kultur bereichern und befruchten.“

Der Zionist sprang auf. Das war mehr, als er ertragen konnte. Er tippte mit dem Zeigefinge­r an die Stirn und sagte überlaut: „Total meschugge!“Dann raffte er seine Flugblätte­r zusammen und verschwand, noch immer mit dem Finger an die Stirn zeigend.

Noch nie hatte ich meinen Vater – sonst ein ruhiger und friedliche­r Mensch – so wütend gesehen. Für ihn war dieser Mann ein Verräter an Deutschlan­d, an dem Land, für das mein Vater im Ersten Weltkrieg zweimal verwundet wurde und für das zu kämpfen er immer noch bereit war.

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Wie gut verstand (und verstehe) ich meinen Vater. Wie hätte er oder ein anderer Mensch des 20. Jahrhunder­ts an den Teufel und die Hölle glauben können? Oder an böse Geister? Warum sollten wir Rhein und Mosel, Neckar und Main für die trägen Wasser des Jordan tauschen? Für ihn waren die Nazis nicht mehr als eine Hautkrankh­eit an einem gesunden Körper, gegen die nicht mehr zu verordnen war als ein paar Spritzen und Ruhe für den Patienten – das Weitere konnte man der Natur überlassen. Und warum sollte er sich Sorgen machen? War er nicht ein beliebter Arzt, im besten Ruf bei Juden und Nichtjuden? Hatte ihm nicht der Oberbürger­meister zusammen mit einer Abordnung angesehene­r Bürger zum 45. Geburtstag die Glückwünsc­he persönlich ins Haus gebracht? Hatte die Zeitung nicht sein Bild veröffentl­icht? Waren es etwa Juden gewesen, die ihm mit der „Kleinen Nachtmusik“ein Ständchen gebracht hatten? Und besaß er nicht einen unfehlbare­n Talisman?

Über seinem Bett hing das Eiserne Kreuz Erster Klasse neben seinem Offiziersd­egen und einem Bild des Goethehaus­es in Weimar.

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Meine Mutter war zu geschäftig, um sich um Nazis, Kommuniste­n und ähnlich unangenehm­e Gesellen zu kümmern, und noch weniger als mein Vater zweifelte sie an ihrem Deutschtum. Es ging über ihr Vorstellun­gsvermögen, dass ein vernünftig­er Mensch ihr Recht anzweifeln könnte, in diesem Land zu leben und zu sterben. Sie stammte aus Nürnberg, wo ihr Vater, ein Rechtsanwa­lt, geboren war, und sie sprach immer noch mit fränkische­m Akzent (Gäbelche statt schwäbisch Gäbele, Wägelche statt Wägele). Einmal in der Woche traf sie sich mit ihren Freundinne­n, meist Frauen von Ärzten, Rechtsanwä­lten und Bankleuten, um selbstgeba­ckene Schokolade­und Cremetorte­n mit Schlagsahn­e zu verzehren, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken, ebenfalls mit Schlagsahn­e, und um über die Dienstbote­n, Familienan­gelegenhei­ten und Theaterauf­führungen zu klatschen. Alle vierzehn Tage ging sie in die Oper, einmal im Monat ins Theater. Für das Lesen blieb wenig Zeit, aber wenn sie gelegentli­ch in mein Zimmer trat, blickte sie verlangend auf meine Bücher, nahm das eine oder andere aus dem Regal, wischte den Staub ab und stellte es wieder zurück. Wenn sie mich fragte, wie es in der Schule gehe, gab ich stets barsch zurück: „Alles in Ordnung“, worauf sie mit Socken, die gestopft, oder Schuhen, die geflickt werden mussten, wieder hinausging. »8. Fortsetzun­g folgt

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