Die Bilanz des Einsatzes in Afghanistan ist niederschmetternd
Die Taliban greifen nach der Macht. Der Westen überlässt das Land seinem Schicksal. Die politischen und moralischen Folgen sind nicht absehbar
Kaum ein Geheimdienst- oder Militärexperte hatte Zweifel daran, dass die afghanische Armee nach dem überstürzten Abzug internationaler Truppen gegen die Taliban auf verlorenem Posten stehen würde. Doch es gab die diffuse Hoffnung, dass es anders kommen könnte, dass der Widerstand gegen die islamistischen Rebellen stärker als erwartet sein würde oder Friedensgespräche doch noch Erfolg haben könnten. Der Vormarsch der Taliban hat diese Illusionen pulverisiert.
Das zwingt zu einem Blick auf die nackte, kalte Realität. Er fällt auf Szenarien, die für Millionen von Afghanen, aber auch für den Westen, die Nato und Deutschland teuer werden dürften – politisch, finanziell aber auch moralisch. Die Afghanen werden im Stich gelassen. In diesen Tagen sterben so viele Zivilisten wie nie. Geschätzt eine Viertelmillion Menschen flüchten vor den Kämpfen, viele in Richtung Iran. Das dürfte erst der Anfang sein. Wie viele der Männer, Frauen und Kinder versuchen werden, weiter nach Europa zu gelangen, ist seriös nicht einzuschätzen.
Die Gespenster-Diskussion in Deutschland, ob die Bundeswehr in dieser dramatischen Lage an den Hindukusch zurückkehren solle, ist abstrus. Ohne US-Truppen ist eine militärische Option vom Tisch. Immerhin hat sich Berlin endlich entschlossen, die Abschiebungen in das Bürgerkriegsland auszusetzen. Gleichzeitig müssen von der Rache der Taliban bedrohte einheimische Helfer der Bundeswehr und deren Familien auf Wunsch von Deutschland aufgenommen werden. Schutzzusagen der unberechenbaren Taliban sind wertlos. Die zögerlichen Schritte der Bundesregierung sind verantwortungslos und unmenschlich – kurz gesagt, eine Schande.
Längere Zeit wird die Analyse des Afghanistan-Einsatzes in Anspruch nehmen. Wie und unter welchen Voraussetzungen können deutsche Soldaten in Zukunft in Krisengebieten im Ausland eingesetzt werden. Die Zielsetzung für den Einsatz im Jahr 2001, Afghanistan Sicherheit, Wiederaufbau und Demokratie zu bringen, erwies sich als naiv und überspannt. Allerdings wird gerne übersehen, dass diese Ziele in Deutschland lange Zeit als durchaus erreichbar galten. Von Krieg sprach kaum keiner – und zwar auch dann noch nicht, als die Truppe ihn hautnah erlebte. Umso größer das Entsetzen, als statt der Reportagen über den Bau von Schulen und Stromleitungen Berichte über Sprengfallen, Anschläge und in Gefechten getötete deutsche Soldaten über die Fernsehbildschirme flimmerten.
Bundeswehr-Angehörige spürten schmerzlich, dass die Gesellschaft Distanz zu ihnen aufbaute. Sie, die in ihrer großen Mehrheit, nach bestem Gewissen versuchten, ihren Auftrag oft unter Lebensgefahr zu erledigen, fühlten sich mit ihren Erfahrungen im Grenzbereich alleine gelassen. Traumatisierte Soldaten mussten oft entwürdigend lange um eine Anerkennung ihrer Traumata kämpfen.
Die Ziele der internationalen Militärmission wurden verfehlt. War der ganze Einsatz umsonst? Steht alles wieder auf null, wenn die Taliban von Kabul aus wieder das Land beherrschen? So einfach ist es nicht. Die Afghanen haben sich verändert, sie haben – zumindest in den Städten – neue Freiheiten kennengelernt, die viele nicht aufgeben wollen. Das gilt ganz besonders für Frauen und Mädchen, die Schulen besucht haben, die eine echte Berufswahl treffen können und sich ein Stück weit von Unterdrückung befreien konnten.
All dies werden auch die TalibanEiferer nicht mit einem Federstrich zu Nichte machen können. Dennoch: Es droht eine Tragödie, wenn sie es mit Terror und Gewalt dennoch versuchen sollten.
Die Einsatzziele waren naiv und überspannt