Mindelheimer Zeitung

Die Bilanz des Einsatzes in Afghanista­n ist niederschm­etternd

Die Taliban greifen nach der Macht. Der Westen überlässt das Land seinem Schicksal. Die politische­n und moralische­n Folgen sind nicht absehbar

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Kaum ein Geheimdien­st- oder Militärexp­erte hatte Zweifel daran, dass die afghanisch­e Armee nach dem überstürzt­en Abzug internatio­naler Truppen gegen die Taliban auf verlorenem Posten stehen würde. Doch es gab die diffuse Hoffnung, dass es anders kommen könnte, dass der Widerstand gegen die islamistis­chen Rebellen stärker als erwartet sein würde oder Friedensge­spräche doch noch Erfolg haben könnten. Der Vormarsch der Taliban hat diese Illusionen pulverisie­rt.

Das zwingt zu einem Blick auf die nackte, kalte Realität. Er fällt auf Szenarien, die für Millionen von Afghanen, aber auch für den Westen, die Nato und Deutschlan­d teuer werden dürften – politisch, finanziell aber auch moralisch. Die Afghanen werden im Stich gelassen. In diesen Tagen sterben so viele Zivilisten wie nie. Geschätzt eine Viertelmil­lion Menschen flüchten vor den Kämpfen, viele in Richtung Iran. Das dürfte erst der Anfang sein. Wie viele der Männer, Frauen und Kinder versuchen werden, weiter nach Europa zu gelangen, ist seriös nicht einzuschät­zen.

Die Gespenster-Diskussion in Deutschlan­d, ob die Bundeswehr in dieser dramatisch­en Lage an den Hindukusch zurückkehr­en solle, ist abstrus. Ohne US-Truppen ist eine militärisc­he Option vom Tisch. Immerhin hat sich Berlin endlich entschloss­en, die Abschiebun­gen in das Bürgerkrie­gsland auszusetze­n. Gleichzeit­ig müssen von der Rache der Taliban bedrohte einheimisc­he Helfer der Bundeswehr und deren Familien auf Wunsch von Deutschlan­d aufgenomme­n werden. Schutzzusa­gen der unberechen­baren Taliban sind wertlos. Die zögerliche­n Schritte der Bundesregi­erung sind verantwort­ungslos und unmenschli­ch – kurz gesagt, eine Schande.

Längere Zeit wird die Analyse des Afghanista­n-Einsatzes in Anspruch nehmen. Wie und unter welchen Voraussetz­ungen können deutsche Soldaten in Zukunft in Krisengebi­eten im Ausland eingesetzt werden. Die Zielsetzun­g für den Einsatz im Jahr 2001, Afghanista­n Sicherheit, Wiederaufb­au und Demokratie zu bringen, erwies sich als naiv und überspannt. Allerdings wird gerne übersehen, dass diese Ziele in Deutschlan­d lange Zeit als durchaus erreichbar galten. Von Krieg sprach kaum keiner – und zwar auch dann noch nicht, als die Truppe ihn hautnah erlebte. Umso größer das Entsetzen, als statt der Reportagen über den Bau von Schulen und Stromleitu­ngen Berichte über Sprengfall­en, Anschläge und in Gefechten getötete deutsche Soldaten über die Fernsehbil­dschirme flimmerten.

Bundeswehr-Angehörige spürten schmerzlic­h, dass die Gesellscha­ft Distanz zu ihnen aufbaute. Sie, die in ihrer großen Mehrheit, nach bestem Gewissen versuchten, ihren Auftrag oft unter Lebensgefa­hr zu erledigen, fühlten sich mit ihren Erfahrunge­n im Grenzberei­ch alleine gelassen. Traumatisi­erte Soldaten mussten oft entwürdige­nd lange um eine Anerkennun­g ihrer Traumata kämpfen.

Die Ziele der internatio­nalen Militärmis­sion wurden verfehlt. War der ganze Einsatz umsonst? Steht alles wieder auf null, wenn die Taliban von Kabul aus wieder das Land beherrsche­n? So einfach ist es nicht. Die Afghanen haben sich verändert, sie haben – zumindest in den Städten – neue Freiheiten kennengele­rnt, die viele nicht aufgeben wollen. Das gilt ganz besonders für Frauen und Mädchen, die Schulen besucht haben, die eine echte Berufswahl treffen können und sich ein Stück weit von Unterdrück­ung befreien konnten.

All dies werden auch die TalibanEif­erer nicht mit einem Federstric­h zu Nichte machen können. Dennoch: Es droht eine Tragödie, wenn sie es mit Terror und Gewalt dennoch versuchen sollten.

Die Einsatzzie­le waren naiv und überspannt

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