Das Endspiel des Strippenziehers
Polens Regierungspartei PiS muss um Mehrheit bangen. Parteichef Kaczynski bastelt an neuem Rechtsbündnis. Gibt es Neuwahlen?
Warschau Donald Tusk hat als Politiker schon fast alles erlebt. Er war Polens Premier und EU-Ratspräsident. Er hat mit Kremlchef Wladimir Putin verhandelt und sich mit US-Präsident Donald Trump Twitter-Duelle geliefert. Es sagt also viel aus über die aktuelle Regierungskrise in Polen, wenn selbst Tusk nicht weiter weiß. „Alle Szenarien sind möglich“, erklärte der 64-Jährige, der kürzlich als Oppositionsführer nach Warschau zurückgekehrt war. Zuvor hatte Premier Mateusz Morawiecki seinen Vize Jaroslaw Gowin entlassen. Die Regierung unter Führung der rechtskonservativen PiS war damit „formal am Ende“, wie mehrere Medien titelten.
Formal stimmte das. Denn Gowin führt im Sejm, dem Parlament, eine Gruppe von 18 Abgeordneten an, die zur Regierungsfraktion gehörten. Bis Dienstag. Ohne diese Stimmen keine PiS-Mehrheit. Letzter Ausweg: Neuwahlen. So einfach schien es. Doch wer so zählte, hatte die Rechnung ohne Jaroslaw Kaczynski gemacht. Der 71-Jährige ist nicht nur PiS-Chef und als Vizepremier Leiter des Sicherheitskabinetts. Faktisch hat Kaczynski in der Regierung allein das Sagen. Manche nennen ihn das Superhirn, andere den Strippenzieher, der Männer wie Morawiecki wie Marionetten lenkt.
Tatsächlich hat Kaczynski hinter den Warschauer Kulissen ein Spiel um alles oder nichts aufgezogen – ein Endspiel um die Zukunft Polens. Der Ausgang ist offen. Denn Kaczynski hat, anscheinend mit einigem Erfolg, Abgeordnete aus der Gowin-Gruppe und kleinerer rechter Parteien davon zu überzeugen versucht, die PiS-Politik zu unterstützen. Wie lange das hält und ob daraus eine Minderheitsregierung oder neue Mehrheiten hervorgehen, kann nicht einmal Tusk abschätzen: „Es ist einfach nur grotesk.“
Im Kern geht es Kaczynski um die Schaffung einer autoritären, illiberalen und von der EU möglichst nicht zu beeinflussenden nationalen Neuordnung. Das ist sein Masterplan. Dafür hat er eine Verschärfung des Mediengesetzes erarbeiten lassen, um den wichtigsten oppositionsnahen Fernsehsender TVN lahmzulegen. Er hat eine Steuerreform vorbereiten lassen, den „polnischen Deal“, mit dem der Staat stärkeren Zugriff auf die Wirtschaft bekommt – und mehr Geld, um die populäre Sozialpolitik der PiS zu finanzieren. Und Kaczynski hat versucht, den Streit mit der EU-Kommission über die Rechtsstaatlichkeit zu entschärfen. Wichtige Teile der hoch umstrittenen Justizreformen sollen vorerst einkassiert werden.
Damit dürfte der Weg frei sein für den Corona-Wiederaufbauplan, dieses Geld der EU braucht die PiSRegierung dringend. Zugleich aber soll das Verfassungstribunal in Warschau über den Vorrang von polnischem vor europäischem Recht urteilen. Die Justizreformen kämen dann wohl später wieder auf die Tagesordnung. Bei all dem wollte der gemäßigte Vizepremier Gowin nicht mitziehen: Kaczynskis Steuerpläne hält er für wirtschaftsfeindlich, vor allem stellt er sich gegen die Verschärfung des Mediengesetzes. Denn künftig sollen Medienhäuser in Polen nur noch zu Unternehmen gehören dürfen, die ihren Sitz im europäischen Wirtschaftsraum haben. Das träfe vor allem TVN mit seinem populären Nachrichtenkanal
TVN24 – und der ist im Besitz des US-Konzerns Discovery. In Polen ist deshalb auch von einer „Lex
TVN“die Rede. Gowin sagt: „Das Gesetz verstößt auf drastische Weise gegen die Medienfreiheit.“Außerdem fürchtet er eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen zu den USA, die das Gesetz scharf kritisieren. Es folgte Gowins Rauswurf aus der Regierung.
Doch damit begann Kaczynski sein Spiel erst richtig. Denn die Mehrheiten im Sejm sind längst nicht so fest gefügt, wie das etwa im Deutschen Bundestag der Fall ist. Viele Abgeordnete kleinerer Parteien unterliegen keiner Fraktionsdisziplin – oder ignorieren sie, zum eigenen Vorteil. Kaczynski lockte diese Parlamentarier, mutmaßlich mit Posten und Einfluss. Am Mittwoch war sich Kabinettssprecher Piotr Müller sicher, dass „die Regierung im Parlament auch künftig eine Mehrheit hat und die Arbeit fortsetzen wird“.
Die Probe aufs Exempel sollte noch am selben Tag im Sejm folgen. Die Abstimmung über die „Lex TVN“stand an. Doch die Beratungen gipfelten in einem Eklat. Die Opposition gewann zunächst eine Abstimmung, die Sitzung auf September zu vertagen. Daraufhin erklärte die Sejm-Präsidentin Elzbieta Witek (PiS) das Resultat wegen eines angeblichen Formfehlers für ungültig. Die Beratungen gingen weiter. Am späten Abend dann stimmten 228 Abgeordnete für das neue Mediengesetz, 216 dagegen. 10 weitere enthielten sich der Stimme.
Beobachterinnen und Beobachter werteten das Abstimmungsdebakel als Fingerzeig, dass am Ende doch alles auf Neuwahlen hinauslaufen könnte. Das schloss auch der stellvertretende PiS-Sprecher Radoslaw Fogiel nicht aus. Vorgezogene Wahlen seien „ein reales Szenario“. In diesem Fall könnte die PiS laut Umfragen mit rund 36 Prozent rechnen und würde stärkste Partei bleiben. Es wäre aber ein Verlust von 7,5 Punkten gegenüber der Wahl von 2019. Die Regierungsmehrheit wäre wohl dahin. Zumal die größte Oppositionspartei, die rechtsliberale Bürgerplattform (PO), seit der Rückkehr von Donald Tusk auf die politische Bühne in Warschau rund zehn Punkte gewonnen hat. Aus einer tiefen Krise kommend, liegt die PO nun bei 26 Prozent. „Der finale Kampf“, sagt Tusk, „fängt jetzt erst an.“