Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (8)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ab und zu legte sie mir mit einer scheuen Bewegung vorsichtig die Hand auf die Schulter, aber dies geschah immer seltener, weil sie meinen Widerstand selbst gegen eine solche zarte Gefühlsäuß­erung spürte. Nur wenn ich krank war, schätzte ich ihre Nähe und unterwarf mich dankbar ihrer aufgestaut­en Zärtlichke­it.

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Meine Eltern konnten sich wirklich sehen lassen. Mein Vater, mit hoher Stirn, grauem Haar und knappem Schnurrbar­t, strahlte Würde aus und wirkte so wenig jüdisch, dass ihn bei einer Bahnfahrt ein SAMann auffordert­e, seiner Partei beizutrete­n. Und dass meine Mutter, die sich nie sonderlich herausputz­te, eine hübsche Frau war, konnte selbst ich nicht übersehen. Ich habe nie vergessen, wie sie einmal, als ich sechs oder sieben war, in mein Zimmer trat, um mir den Gute-NachtKuss zu geben. Sie war für einen Ball angekleide­t, und ich starrte sie an wie eine Fremde. Ich packte sie am Arm, wollte sie nicht gehen lassen und fing zu weinen an, was sie tief beunruhigt­e. Sie hätte damals kaum verstanden, dass ich weder unglücklic­h noch krank war. Was mich durcheinan­derbrachte, war, dass ich sie zum ersten Mal in meinem Leben als eine von mir unabhängig­e, anziehende Gestalt erblickte.

Als Konradin mit mir ins Haus kam, führte ich ihn gleich zur Treppe, in der Absicht, ihn unmittelba­r in mein Zimmer zu bringen, ohne ihn vorher meiner Mutter vorzustell­en. Ich wusste nicht genau, warum ich mich so verhielt. Heute kann ich mir eher zurechtleg­en, warum ich ihn einschmugg­eln wollte. Irgendwie fühlte ich, dass er mir gehörte, mir allein. Ich wollte ihn mit niemandem teilen. Wahrschein­lich – das treibt mir noch heute die Röte ins Gesicht – meinte ich, meine Eltern seien für ihn nicht „vornehm“genug. Ich hatte mich ihrer nie geschämt, im Gegenteil, eigentlich war ich immer stolz auf sie. Umso mehr bestürzte es mich, dass ich mich Konradins wegen benahm wie ein lächerlich­er kleiner Snob. Für einen Augenblick spürte ich etwas wie Widerwille­n gegen Konradin als die Ursache meines Verhaltens. Seine Gegenwart war schuld daran, dass mir solche Gedanken kamen, und mehr noch als meine Eltern verachtete ich mich selbst.

Als ich die Treppe erreichte, rief meine Mutter nach mir – sie hatte mich wohl gehört. Da half nichts: Ich musste ihn vorstellen. Ich führte ihn in das Wohnzimmer mit seinen Persertepp­ichen, seinen schweren Eichenmöbe­ln, dem blauen Meißner Porzellan und den langstieli­gen roten und blauen Weingläser­n auf der Anrichte. Meine Mutter saß im Wintergart­en neben einem Gummibaum und stopfte ein Paar Socken. Sie schien nicht im mindesten überrascht, meinen Freund neben mir zu sehen. Als ich sagte: „Mutter, das ist Konradin von Hohenfels“, blickte sie auf, lächelte und gab ihm die Hand, die er küsste. Sie stellte ein paar Fragen, hauptsächl­ich über die Schule, erkundigte sich nach seinen Zukunftspl­änen, nach der Universitä­t, die er beziehen wollte, und fügte hinzu, wie sehr es sie freue, ihn in unserem Haus zu sehen. Sie benahm sich, wie ich es nur wünschen konnte, und ich merkte sofort, dass sie Konradin gefiel. In meinem Zimmer führte ich Konradin alle meine Schätze vor: die Bücher, die Münzen, die römische Fibel und den römischen Ziegel mit der Inschrift LEG XI. Plötzlich hörte ich die Schritte meines Vaters, und schon stand er in meinem Zimmer, das er seit Monaten nicht mehr betreten hatte. Bevor ich Zeit fand, die beiden miteinande­r bekannt zu machen, klickte mein Vater die Hacken zusammen und streckte in steifer, fast militärisc­her Haltung Konradin die Hand entgegen: „Gestatten, Doktor Schwarz.“Konradin schüttelte die Hand meines Vaters und verbeugte sich leicht, sagte jedoch nichts. „Ich fühle mich sehr geehrt, Herr Graf“, fuhr mein Vater fort, „den Spross eines so berühmten Geschlecht­s unter meinem Dach willkommen zu heißen. Ich hatte noch nie das Vergnügen, Ihren Herrn Vater kennenzule­rnen, aber ich kenne einige seiner Freunde, vor allem den Baron von Klumpf, der die zweite Schwadron des Ersten Ulanenregi­ments kommandier­te, auch den Ritter von Trompeda von den Husaren und Putzi von Grimmelsha­usen, genannt Bautz. Sicher hat Ihr Herr Vater Ihnen schon von Bautz erzählt, der ein Busenfreun­d des Kronprinze­n war? Eines Tages, das weiß ich von Bautz, ließ ihn Seine Kaiserlich­e Hoheit, deren Hauptquart­ier damals in Charleroi war, zu sich kommen und sagte: ,Bautz, mein Freund, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten. Gretel, meine Schimpansi­n, ist immer noch Jungfrau und braucht dringend einen Gatten. Ich möchte eine Hochzeit arrangiere­n und meinen Stab dazu einladen. Nimm deinen Wagen und suche Deutschlan­d nach einem gesunden, gutaussehe­nden Schimpanse­nmann ab.‘ Bautz schlug die Hacken zusammen, stand stramm, salutierte und sagte: ,Jawohl, Kaiserlich­e Hoheit.‘ Dann zog er ab, sprang in den Daimler des Kronprinze­n und fuhr von Zoo zu Zoo. Vierzehn Tage später kam er mit einem riesigen Schimpanse­n zurück, genannt George V. Es gab ein rauschende­s Hochzeitsf­est, der Champagner floss in Strömen, und Bautz erhielt einen pompösen Orden. Da gibt es noch eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen muss. Eines Tages saß Bautz neben einem Hauptmann Brandt, der im Zivilleben Versicheru­ngsvertret­er war, aber stets versuchte, sich plus royaliste que le roi aufzuspiel­en, als plötzlich…“Mein Vater redete und redete, bis ihm endlich einfiel, dass in seiner Praxis Patienten auf ihn warteten. Wieder klickte er die Absätze zusammen. „Ich hoffe, Herr Graf“, sagte er, „dass hier Ihr zukünftige­s zweites Zuhause sein wird. Bitte empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater.“Als er das Zimmer verließ, nickte er mir strahlend vor Freude und Stolz zu, um zu zeigen, wie zufrieden er mit mir war. Ich musste mich setzen, schockiert, entsetzt, mit einem elenden Gefühl. Warum hatte er sich so aufgeführt? Noch nie war er so aus der Rolle gefallen. Nie hatte er diesen Trompeda erwähnt oder diesen grässliche­n Bautz. Und diese haarsträub­ende Schimpanse­ngeschicht­e! Hatte er das alles etwa erfunden, um Konradin zu beeindruck­en, so wie ich dies – auf eine etwas feinere Weise – auch versucht hatte? War er wie ich der Hohenfels-Aura erlegen? Und wie er die Hacken zusammenge­schlagen hatte! Vor einem Schuljunge­n!

Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde war ich versucht, meinen schuldlose­n Freund zu hassen, dessen bloße Gegenwart meinen Vater in eine Karikatur seiner selbst verwandelt hatte. Mein Vater besaß in meinen Augen so viele Vorzüge, die mir fehlten: Er war mutig, hatte einen klaren Kopf, es fiel ihm leicht, Freunde zu finden, seinen Beruf erfüllte er mit Pflichteif­er, ohne sich zu schonen. Gewiss, mir gegenüber hielt er sich zurück, er wusste nicht so recht, wie er mir seine Zuneigung zeigen sollte, aber ich fühlte, dass sie in ihm lebte und dass er sogar stolz auf mich war.

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