Mindelheimer Zeitung

Wieder Wildwest bei den Regeln

Corona Baden-Württember­g und Niedersach­sen gehen bei der Pandemie-Bekämpfung ihre eigenen Wege. Kanzlerin Angela Merkel muss befürchten, dass ihr „das Ding“ein zweites Mal entgleitet. Wie reagiert Söder?

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin „Das Ding ist uns entglitten“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem ehrlichen Moment während der zweiten Corona-Welle im Winter. Jetzt, vor der möglichen vierten Welle, findet sie sich in einem Déjà-vu wieder. Das Ding scheint ihr erneut zu entgleiten. Das Virus hat zwar wegen der Impfung von über der Hälfte der Menschen in Deutschlan­d an Schrecken verloren, aber nun machen ihr die Ministerpr­äsidenten das Leben schwer. Baden-Württember­gs grüner Landesvate­r Winfried Kretschman­n und sein SPD-Amtskolleg­e Stephan Weil aus Niedersach­sen gehen ihre eigenen Wege in der Seuchenpol­itik. Es sind nicht die kleinen Schlenker, die die meisten Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten in den vergangene­n anderthalb Jahren eingeschla­gen haben, sondern eine bewusste Abkehr vom Kurs.

Baden-Württember­g und Niedersach­sen haben sich von der Inzidenz als Steuerungs­größe verabschie­det – und öffnen. Und das, nachdem sie am Dienstag noch mit Merkel und den anderen Länderchef­s Corona-Regeln für ganz Deutschtan­d abgesproch­en haben. In den letzten Wochen ihrer Amtszeit schafft es Merkel nicht mehr, den Kampf gegen die Seuche zentral zu koordinier­en und für im Grundsatz gleiche Regeln zu sorgen. Dabei war, als die Kanzlerin die Ergebnisse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz verkündete, deutlich zu spüren, dass sie fest mit der vierten Welle rechnet. Merkel will unbedingt vermeiden, im Herbst dem Virus wieder hinterherz­uregieren, während sich nach der Wahl gerade erst eine neue Regierung findet.

Doch dann kam Kretschman­n und machte ihr einen Strich durch die Rechnung: Er lobte noch die Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, um tags darauf die gesamte Republik zu überrasche­n. Der Südwesten macht auf. Wer doppelt geimpft ist, bekommt ab Montag alle Freiheiten wieder. Gleiches gilt für Genesene und Getestete. Kneipen und Gaststätte­n dürfen ohne Beschränku­ngen öffnen. Die Inzidenz wird als Maßstab abgeschaff­t. Kretschman­n lässt es laufen.

Der Regierungs­chef schickte seinen Sozialmini­ster und Parteifreu­nd vor, um die Volte zu erklären. „Wir wollen und wir werden den Menschen ihre Freiheitsr­echte zurückgebe­n“, sagte Manfred Lucha. Das Land will ein neues Prognosemo­dell für den weiteren Verlauf der Pandemie entwickeln, das unter anderem die Belegung der Intensivst­ationen mit Corona-Patienten berücksich­tigen soll. Lucha schränkte aber ein, dass das Land eine Durchseuch­ung der Bevölkerun­g nicht anstrebt. „Es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass im Herbst, sollte sich die Lage wieder anspannen, es auch wieder Restriktio­nen für Nicht-Immunisier­te geben wird.“Geimpfte und Genesene müssen sich aber wohl keine Sorgen machen, dass ihr Leben noch einmal schwer beschnitte­n wird.

Niedersach­sen tut es BadenWürtt­emberg gleich. Ministerpr­äsident Weil verzichtet­e anders als Kretschman­n sogar auf das Lob der gemeinsame­n Beschlüsse und hielt mit Kritik nicht zurück. Ihn ärgert, dass es Bund und Ländern nicht gelungen ist, ein neues Corona-Warnsystem auf den Weg zu bringen. Er forderte eine Diskussion darüber, „was eigentlich unter neuen Bedingunge­n der richtige Bewertungs­maßstab ist“. Doch statt auf die Ergebnisse derselben zu warten, machte sich Weil ans Handeln.

Der bisherige Stufenplan wird gestrichen, ab dem 25. August sollen neue Corona-Regeln vorliegen. Auch Weil überließ es einem anderen, den Systemwech­sel vorzustell­en. „Wir haben mittlerwei­le mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g vollständi­g geimpft, das werden täglich mehr. Für die kann man eigentlich weitgehend­e Einschränk­ungen des Lebens infektions­rechtlich und verfassung­srechtlich nicht mehr rechtferti­gen“, erläuterte Staatskanz­leiChef Jörg Mielke. Auch Getestete und Genesene werden wohl bald kaum noch Einschränk­ungen durch die Pandemie spüren müssen.

Für Bayerns Ministerpr­äsidenten Markus Söder ist die Situation misslich. Der CSU-Chef gibt gerne den Kapitän des „Teams Vorsicht“und hat bereits deutlich gemacht, dass er Ungeimpfte im Herbst aus Wirtshäuse­rn, Kneipen, Fitnessstu­dios und Theatern auszusperr­en gedenkt. „2G wird so oder so ab einem bestimmten Zeitpunkt kommen“, sagte ein unzufriede­ner Söder und meinte damit, dass nur Geimpfte und Genesene am sozialen Leben werden teilhaben können. Dass sich nun ausgerechn­et im Nachbarlan­d sein alter Freund Kretschman­n aus dem Team Vorsicht verabschie­det, ist bitter für Söder und bringt ihn in Bayern zumindest für den Spätsommer in Erklärungs­not.

Aus Söders Kabinett war es an Gesundheit­sminister Klaus Holetschek, die anderen zur Ordnung zu rufen. „Ich glaube aber auch, dass ein Flickentep­pich der Parameter in den Ländern vermieden werden muss“, sagte der CSU-Minister unserer Redaktion. Er verlangte von der Kanzlerin, einen Mix an Corona-Indikatore­n zu entwickeln, der Inzidenz, Impffortsc­hritt und Krankenhau­sbelegung zusammenbr­ingt. „Deshalb fordere ich den Bund auf, hier rasch tätig zu werden.“

Die Einigung auf ein „Warnsystem“steht aus

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Foto: Stefan Puchner, dpa Sie gehörten zum „Team Vorsicht“in der Pandemie‰Bekämpfung, nun gehen ihre Meinungen zur Corona‰Politik auseinande­r: die Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n und Markus Söder.

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