Mindelheimer Zeitung

„Berlin ist das Aushängesc­hild eines neuen Deutschlan­d“

Interview Der Historiker Heinrich August Winkler erklärt zum 60. Jahrestag des Mauerbaus, wie der Westen mit der Abschottun­g des Ostens umging, was die Mauer für die Linken bedeutete und warum in der eigenen moralische­n Überhöhung eine Gefahr für das Land

- Interview: Peter Riesbeck

Herr Winkler, am 13. August ist der 60. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer. Alle kennen das Datum, was genau spielte sich im Vorfeld ab? Heinrich August Winkler: Die Vorgeschic­hte des Mauerbaus beginnt mit Chruschtsc­hows Berlin-Ultimatum vom November 1958 und der sowjetisch­en Forderung des Abzugs der Westalliie­rten sowie der Umwandlung Westberlin­s in eine „freie Stadt“auf dem Gebiet der DDR. Das wurde vom Westen zurückgewi­esen. Im Juni 1961 trafen sich dann der sowjetisch­e Parteichef Nikita Chruschtsc­how und US-Präsident John F. Kennedy. Das Treffen in Wien brachte deutschlan­dpolitisch aber keine neuen Ansätze. Kennedy formuliert­e im Juli 1961 schließlic­h seine drei Essentials: das Verbleiben der Westalliie­rten in Westberlin, den freien Zugang von und nach Westberlin und das politische Selbstbest­immungsrec­ht der Westberlin­er. Über Ostberlin hat Kennedy in seiner Fernsehans­prache nicht gesprochen. Das wurde im Osten entspreche­nd verstanden.

Worin liegt die historisch­e Bedeutung des Mauerbaus?

Winkler: Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 bedeutet buchstäbli­ch die Zementieru­ng der deutschen Teilung. Bis dahin galt Berlin, oder besser der Westen der Stadt, als Tor zur freien Welt. In Berlin konnte man mit der S-Bahn in die Freiheit fahren. Diese Möglichkei­t haben auch viele aus dem Osten genutzt: zunächst viele Angehörige des Bürgertums, dann Facharbeit­er, dann Bauern, die mit ihrer Flucht in den Westen auf die Kollektivi­erung der Landwirtsc­haft reagierten. Das war eine Abstimmung mit den Füßen. Die Führung der DDR fürchtete ein Ausbluten des Landes. Berlin war die Insel der Freiheit im roten Meer, wie es damals im Westen hieß.

Mit dem Bau der Mauer war Berlin der Vorposten der freien Welt … Winkler: Das war es schon zuvor, wenn wir an die Rede des damaligen Oberbürger­meisters Ernst Reuter von 1948 denken: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt.“Mit dem Bau der Mauer war Westberlin noch mehr als zuvor das Schaufenst­er des Westens. Die Verteidigu­ng Berlins galt auch als Prestigefr­age. Ein Fall der Stadt wäre einer Kapitulati­on des Westens gleichgeko­mmen. Die Haltung des Westens unterstric­h der Besuch Kennedys im Westteil der Stadt im Sommer 1963 mit dem berühmten Satz: „Ich bin ein Berliner.“

Dem Bekenntnis zur Freiheit Westberlin­s. Insgesamt fiel die US-Reaktion allerdings eher verhalten aus …

Kennedy hatte kurz vor seiner Reise 1963 nach Berlin in den USA eine Grundsatzr­ede unter dem Motto gehalten: „Strategie des Friedens“. Seine Überlegung lautete: Wenn die Differenze­n in der Welt nicht überwunden werden können, muss man lernen, mit ihnen zu leben. „To make the world safe for diversity“– frei übersetzt: die Welt reif machen für das Ertragen von Gegensätze­n – hieß das bei Kennedy in Anlehnung an Woodrow Wilson. Der Berliner Politikwis­senschaftl­er Richard Löwenthal hat später mit Blick auf Mauerbau und Kubakrise von einer Doppelzäsu­r gesprochen. Die Nichtstati­onierung sowjetisch­er Atomrakete­n auf Kuba 1962 bildete die Anerkennun­g der westlichen Machtsphär­e. Die zurückhalt­ende US-Reaktion auf den Mauerbau bedeutete die Hinnahme des Status quo in Europa.

Was waren die Konsequenz­en für das politische Berlin?

Winkler: Der Regierende Bürgermeis­ter Willy Brandt und Egon Bahr, der Pressespre­cher des Senats, übertrugen Kennedys Einsichten auf Um die Realität zu ändern, muss man sie zuerst als solche anerkennen. Schon im Dezember 1963 folgte das Berliner Passiersch­einabkomme­n. Damit war das Tabu gebrochen, dass mit dem anderen deutschen Staat nicht verhandelt werden dürfe. Als Bundeskanz­ler setzte Brandt nach 1969 diese Linie mit seiner Ostpolitik fort: der Moskauer Vertrag 1970, der Warschauer Vertrag im gleichen Jahr mit der faktischen Anerkennun­g der Oder-Neiße-Grenze, das Viermächte­abkommen über Berlin von 1971 und der Grundlagen­vertrag 1972. Ohne die neue Ostpolitik hätte es 1990 schwerlich eine Wiedervere­inigung Deutschlan­ds in Frieden und Freiheit gegeben.

Die Ostverträg­e waren damals heftig umstritten. Es war die Rede von „zwei Staaten und einer Nation“. Wie sehr hat das das Entstehen eines postnation­alen Staatsvers­tändnisses in Deutschlan­d vorangetri­eben? Winkler: Diese Entwicklun­g setzte schon früher ein – nach dem Zweiten Weltkrieg. Der übersteige­rte Nationalis­mus in Deutschlan­d hatte im Dritten Reich seinen Höhepunkt – oder vielmehr seinen Tiefpunkt erreicht. Nach 1945 knüpften katholisch­e Konservati­ve dann an die übernation­ale Reichsidee aus dem Mittelalte­r an. Die Nation sollte in etwas Übergeordn­etem aufgehen – Europa. In der Folgezeit wanderte die übernation­ale Idee von rechts nach links.

Wie ging dieser Prozess vonstatten? Winkler: Die Debatte vollzog sich vor dem Hintergrun­d der Deutschlan­dpolitik: zwei Staaten, eine Nation. Von der Bundesrepu­blik als deutschem Nationalst­aat konnte keine Rede sein. 1976 sprach der liberalkon­servative Historiker KarlDietri­ch Bracher mit Blick auf die Bundesrepu­blik von einer postnation­alen Demokratie unter Nationalst­aaten. Oskar Lafontaine, damals stellvertr­etender Vorsitzend­er der SPD, leitete dann 1988 in seinem Buch „Die Gesellscha­ft der Zukunft“aus der Perversion des Nationalis­mus in Deutschlan­d vor 1945 eine supranatio­nale Sendung der Bundesrepu­blik in Europa ab. Damit einher ging auch eine symboliBer­lin: sche Umdeutung der Berliner Mauer. Sie war für Teile der Linken nun nicht mehr nur eine Folge des mangelnden deutschlan­dpolitisch­en Konsenses der Alliierten, die Mauer avancierte zum stillen Mahnmal für die nationalso­zialistisc­hen Verbrechen. Der Schriftste­ller Günter Grass folgerte: Auschwitz schließt eine Wiedervere­inigung aus.

In diese postnation­ale Welt kam der Fall der Mauer 1989 und die deutsche Einheit. Wie lässt sich das wiedervere­inte Deutschlan­d aus Sicht des Historiker­s einordnen?

Winkler: Die deutsche Frage ist mit der Wiedervere­inigung vom 3. Oktober 1990 endgültig gelöst. Und zwar auf dreifache Weise. Der klassische Konflikt der deutschen Geschichte, die Frage nach Einheit und Freiheit, ist beantworte­t. Auf die gescheiter­te Revolution von unten 1848 und den Ruf nach Freiheit antwortete Bismarck 1870/71 mit einer Revolution von oben und dem Vorrang der Einheit vor der Freiheit. Die Wiedervere­inigung bringt die Einheit in Freiheit. Zweitens ist die Gebietsfra­ge völkerrech­tlich eindeutig geklärt. Drittens ist die deutsche Frage nicht länger ein Problem der europäisch­en Sicherheit. Deutschlan­d gehört der EU und der Nato an. Die Bundesrepu­blik ist wie die anderen Mitgliedst­aaten der EU ein postklassi­scher Nationalst­aat. Sie übt einige ihrer Hoheitsrec­hte gemeinsam mit anderen aus und hat andere auf supranatio­nale Einrichtun­gen übertragen.

Deutschlan­ds Rolle in der Eurokrise, die Haltung in der Flüchtling­spolitik im Herbst 2015, das Neusortier­en der EU nach dem Brexit – vielfach wird auch von einer neuen deutschen Frage gesprochen …

Winkler: Deutschlan­d hat aus der Geschichte gelernt – mit großem Erfolg. Die Debatte über die neue deutsche Frage impliziert etwas anderes: politische Alleingäng­e mit einem Sendungsbe­wusstsein, das von den Partnern mitunter als anmaßend empfunden wird – in der Migrations­krise, aber auch mit Blick auf eine demonstrat­ive militärisc­he Zurückhalt­ung. Von den Nachbarn kann das leicht als Anspruch auf moralische Überlegenh­eit gedeutet werden.

Vor 30 Jahren entschied der Bundestag, den Regierungs­sitz nach Berlin zu verlegen, entgegen manchen Befürchtun­gen wegen der einstigen Rolle der Stadt in der preußische­n Geschichte vor 1945. Wie nehmen Sie Berlin und die Rolle des wiedervere­inten Deutschlan­d wahr?

Winkler: Der Beschluss des Bundestags vom 20. Juni 1991 war die einzig realistisc­he Lösung der Hauptstadt­frage. Berlin hat sich in vielerlei Hinsicht zu einer echten Metropole entwickelt. Die Stadt tut gut daran, sich als Aushängesc­hild eines neuen Deutschlan­d zu verstehen. Ohne moralische­s Sendungsbe­wusstsein. Das bedeutet nicht, dass die Bundesrepu­blik als postklassi­scher Nationalst­aat die Lehren aus der Geschichte und des langen deutschen Weges nach Westen verkennt. Der Westen steht für die Idee einer rechtsstaa­tlich verfassten, repräsenta­tiven Demokratie. Diese Entwicklun­g ist vielfach bedroht, wenn wir etwa an illiberale Demokratie­n in unserer Nachbarsch­aft denken. Die EU versteht sich als Werteunion. Dieser Anspruch darf mit Blick auf manchen Mitgliedst­aat in Ostmittele­uropa nicht unter die Räder kommen. 82, lehrte ab 1991 an der Humboldt‰Universitä­t in Berlin. Er befasst er sich mit dem langen Weg Deutschlan­ds nach Westen.

 ?? Foto: dpa ?? Arbeiter erhöhen die Sektorensp­erre an der Bernauer Straße in Berlin im August 1961. Fast Abend für Abend war es an diesem und anderen Mauerabsch­nitten zu Zwischen‰ fällen gekommen. Am 13. August 1961 wurde die Mauer in Berlin gebaut.
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Foto: dpa Arbeiter erhöhen die Sektorensp­erre an der Bernauer Straße in Berlin im August 1961. Fast Abend für Abend war es an diesem und anderen Mauerabsch­nitten zu Zwischen‰ fällen gekommen. Am 13. August 1961 wurde die Mauer in Berlin gebaut. Winkler:
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