Fred Uhlman: Der wiedergefundene Freund (9)
Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundschaft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich
Und nun hatte er dieses Bild selbst zerstört, und ich hatte Grund, mich seiner zu schämen. Wie lächerlich hatte er ausgesehen, wie aufgeblasen und liebedienerisch! Er, der Konradins Respekt verlangen konnte! Dieser Anblick, dieses Hackenzusammenschlagen, dieses: „Gestatten, Herr Graf“, diese ganze schreckliche Szene verfinsterte das bisherige Vater-Ideal. Nie wieder würde er derselbe Mann für mich sein, nie wieder konnte ich ihm in die Augen sehen, ohne Trauer und Scham zu fühlen, eine Scham darüber, dass ich mich schämte.
Ich zitterte heftig und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Ich wünschte nur eines: Konradin nie wiederzusehen. Aber Konradin, der verstanden haben musste, was in mir vorging, gab vor, angelegentlich meine Bücher zu mustern. Hätte er sich anders verhalten, hätte er mich jetzt angesprochen oder gar versucht, mich zu besänftigen, mich zu berühren – ich hätte ihn geschlagen. Er hatte meinen Vater erniedrigt und mich als Snob entlarvt, der eine solche Demütigung verdiente. Aber er tat instinktiv das Richtige. Er ließ mir Zeit, mich zu fassen, und als er sich nach fünf Minuten umdrehte und mich anlächelte, konnte ich zurücklächeln, trotz der angestauten Tränen.
Zwei Tage später besuchte er mich wieder. Unaufgefordert hängte er seinen Mantel in der Diele auf und ging, als sei dies eine lebenslange Gewohnheit, unverzüglich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer. Wieder begrüßte sie ihn in derselben freundlichen, ruhigen Art wie das erste Mal, kaum von ihrer Arbeit aufblickend, als wäre er ihr zweiter Sohn. Sie servierte uns Kaffee und Streuselkuchen, und von da an kam er regelmäßig drei- bis viermal in der Woche. Er gab sich bei uns entspannt und glücklich, und nichts störte mein Wohlbehagen außer meiner Furcht, mein Vater könnte noch mehr Bautz-Geschichten auftischen. Aber auch er benahm sich gelöster und gewöhnte sich immer mehr an die Anwesenheit Konradins. Schließlich hörte er auf, ihn „Herr Graf“zu titulieren, und nannte ihn einfach beim Vornamen.
13
Seit Konradin bei mir aus und ein ging, wartete ich darauf, auch von ihm eingeladen zu werden. Aber die Zeit verstrich ohne eine Gegeneinladung. Wenn ich ihn begleitete, blieben wir stets an dem Eisengitter stehen, über dem zwei Greife das Wappenschild der Hohenfels hielten, er sagte adieu, öffnete das schwere Tor und ging den von Oleander gesäumten und nach dessen Blüten duftenden Pfad zum Portikus und Haupteingang des Gebäudes hinauf. Dort klopfte er leicht an die mächtige schwarze Tür, diese öffnete sich leise, und Konradin verschwand dahinter wie für immer. Ab und zu wartete ich noch ein Weilchen, und während ich durch die Eisenstäbe spähte, hoffte ich auf ein Sesam-öffne-dich und auf ein Wiedererscheinen. Aber er kehrte nie zurück. Die Tür war so abweisend wie die beiden Greife, die grausam und mitleidlos auf mich herabblickten mit gespaltenen Zungen und mit scharfen Krallen, die aussahen wie Sicheln, um mir das Herz herauszuschneiden. Jedes Mal erlitt ich dieselbe Pein der Trennung und des Ausgeschlossenseins, jedes Mal gewann dieses Haus, das den Schlüssel unserer Freundschaft barg, an geheimnisvoller Bedeutung. Meine Phantasie füllte es mit Schätzen, Bannern geschlagener Feinde, Schwertern der Kreuzritter, Rüstungen, Lampen, die einst in Isfahan und Teheran gebrannt hatten, Brokatstoffen aus Samarkand und Byzanz. Aber die Barrieren, die mich von Konradin fernhielten, schienen für ewig aufgerichtet. Ich konnte das nicht begreifen. Es war undenkbar, dass er – der so sorgsam vermied, Schmerz zu verursachen, der so rücksichtsvoll war, stets bereit, meine Heftigkeit, meine Angriffslust zu beschwichtigen, wenn er meiner „Weltanschauung“nicht beipflichten konnte –, dass er vergessen haben könnte, mich einzuladen. Viel zu stolz, ihn zu fragen, verstrickte ich mich mehr und mehr in Kummer und Argwohn, überwältigte mich das Verlangen, in die Festung Hohenfels einzudringen.
Eines Tages, als ich gerade weggehen wollte, drehte Konradin sich unerwartet um: „Komm doch herein, du hast ja mein Zimmer noch nicht gesehen.“Ehe ich antworten konnte, hatte er das eiserne Tor aufgestoßen, die beiden Greife schwangen zurück, immer noch bedrohlich, aber fürs Erste der Macht ihrer räuberischen Fittiche enthoben.
Ich erschrak – darauf war ich nicht gefasst. Die Erfüllung meiner Träume geschah so plötzlich, dass ich einen Augenblick den Wunsch hatte, davonzulaufen. Wie sollte ich mit ungeputzten Schuhen und einem Kragen von zweifelhafter Sauberkeit seinen Eltern begegnen? Wie konnte ich seiner Mutter entgegentreten, die ich einmal von ferne gesehen hatte, schwarz gegen rosa Magnolien? Ihre Haut war nicht weiß wie die meiner Mutter, sondern olivenfarbig. Sie hatte mandelförmige Augen und trug einen Sonnenschirm, den sie mit der rechten Hand drehte wie ein weißes Feuerrad. Aber nun half auch mein Zittern nicht mehr, ich musste ihm folgen. Wie ich es oft genug gesehen hatte – auch in meinen Träumen –, klopfte er sacht gegen die Tür. Diese öffnete sich willig und leise, um ihn und mich einzulassen.
Im ersten Augenblick schien es völlig finster zu sein. Dann gewöhnten sich meine Augen an das schwache Licht, und ich sah eine große Eingangshalle, deren Wände mit Jagdtrophäen bedeckt waren: gewaltige Hirschgeweihe, der Schädel eines europäischen Büffels, die cremeweißen Zähne eines Elefanten, dessen in Silber gefasster Fuß als Schirmständer diente. Ich hängte meinen Mantel auf und legte meine Schulmappe auf einen Stuhl. Ein Diener erschien und verbeugte sich vor Konradin: „Der Kaffee ist serviert, Herr Graf.“Konradin nickte und wies mich eine dunkle Eichentreppe hinauf in den ersten Stock, wo ich im Vorbeigehen geschlossene Türen in eichengetäfelten Wänden erkannte, an denen ein paar Bilder hingen: eine Bärenjagd, ein Hirschkampf, ein Portrait des letzten Königs von Württemberg und die Ansicht einer Burg, die wie eine Mischung aus den Schlössern Hohenzollern und Neuschwanstein aussah. Über die zweite Treppe kamen wir in einen Korridor mit weiteren Bildern: Luther vor Kaiser Karl V., Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer, Barbarossa im Kyffhäuser schlafend, mit dem durch den Marmortisch gewachsenen Bart. Eine Tür stand offen, ich sah in ein Damenschlafzimmer mit einem Toilettentisch, bedeckt mit Parfümfläschchen und Bürsten aus Schildpatt, die mit Silber eingelegt waren. Auch einige Fotos in Silberrahmen waren zu erkennen, meist von Offizieren, aber eines sah beinahe aus wie Adolf Hitler. Ich erschrak, hatte jedoch keine Zeit, näher hinzusehen. Sicher hatte ich mich geirrt. »10. Fortsetzung folgt