Kinderärzte am Limit
Grippewelle Schnupfen, Husten, Fieber: Ungewöhnlich viele Kinder kämpfen derzeit mit Infekten. Was das mit Corona zu tun hat und warum Mediziner vor den Folgen warnen
Augsburg Der Bub klagt über Ohrenschmerzen, das Mädchen bekommt schlecht Luft, dem nächsten Kind läuft ununterbrochen die Nase – viele Kinderärztinnen und -ärzte berichten derzeit von einem für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Andrang auf ihre Praxen. Etwa ein Viertel mehr Kinder also sonst zu dieser Zeit müsste er derzeit behandeln, sagt Dr. Christian Voigt, Kinderarzt aus Stadtbergen im Landkreis Augsburg. Ein Phänomen, das auch in der Augsburger Uniklinik zu beobachten ist, bestätigen die beiden Mediziner Dr. Michael Frühwald und Dr. Michael Gerstlauer. Sie haben dafür auch eine Erklärung – die gleichzeitig eine düstere Prognose für den Winter ist.
Denn die aktuelle Erkältungswelle sei eine logische, wenn auch indirekte Konsequenz der Corona-Pandemie, sagen Frühwald und Gerstlauer. Beide arbeiten am Augsburger Uniklinikum. In normalen Jahren gebe es in den warmen Monaten eine Art „Sommerloch“, das auf eine Infektionswelle mit verschiedenen Viren im Frühjahr zurückzuführen sei. Dieses Jahr machten allerdings die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung den „sonst üblichen Viren“, wie zum Beispiel dem oft für Schnupfen verantwortlichen Rhinovirus, einen Strich durch die Rechnung – sie konnten sich nicht wie gewohnt in Kindergärten, Schulen oder auf Spielplätzen verbreiten. Der Corona-Lockdown diente somit auch als Grippeschutz. Doch nun schlagen diese Viren zurück und treffen dank der Lockerungen vielerorts auf Kinder, die mangels Kontakten kaum Möglichkeiten hatten, durch eine Infektion Antikörper zu entwickeln.
So infizieren sich nun während des eigentlichen Sommerlochs immer mehr Kinder und Jugendliche – einige davon sogar doppelt. Das sei nicht ungewöhnlich, sagen die Augsburger Mediziner. Zum Beispiel geselle sich zu einer normalen Grippe oftmals eine Infektion mit dem sogenannten RS-Virus, das oft bei Kleinkindern auftritt und unter anderem die Bronchien angreift. Nun drohe jedoch eine zusätzliche Infektion mit dem Coronavirus. Für ein Kind mit einem ohnehin schon geschwächten Immunsystem erhöhe dies das Risiko für einen schweren und langwierigen Verlauf der Covid-Erkrankung, sagen die Ärzte. Zudem bestehe die Gefahr, dass manche eine Corona-Infektion gar nicht bemerkten, sondern „nur“von einer Grippe ausgingen, zumal der Krankheitsverlauf bei Kindern und Jugendlichen häufig milde sei, befürchtet Gerstlauer: „Der erste Ansprechpartner sollte die Kinderärztin oder der Kinderarzt sein.“
Aktuell holen Kinder und Jugendliche ihre Infekte also quasi nach. Das spürt auch Kinderarzt Christian Voigt. Er verzeichnet 25 Prozent mehr Patientinnen und Patienten, mache deshalb „natürlich viele Überstunden“. Bei Kindern und Jugendlichen stelle er zudem eine starke psychische Belastung fest – und die könne verheerend sein: „Die Ruhigeren zeigen depressive Tendenzen, die Aktiveren werden teilweise gewalttätig.“Und eine angeschlagene Psyche bringe auch ein erhöhtes Risiko für Krankheiten mit sich, sagt Kinderarzt Frühwald. Betroffen seien jedoch oft jene Kinder, die in einem weniger stabilen sozialen Milieu aufwachsen.
Frühwald und Gerstlauer pflichten ihrem Kollegen bei. Neben den psychischen Konsequenzen der aktuellen Grippewelle befürchten sie, dass diese auch weit über den Sommer hinaus andauern könnte. Daher sei es umso wichtiger, sich weiter an die AHA-Regeln zu halten, sich regelmäßig und gründlich die Hände zu waschen. Dazu sollten sich so viele Menschen wie möglich gegen das Coronavirus impfen lassen. „Die Erwachsenen müssen ein Vorbild sein und können eine verheerende vierte Welle verhindern“, sagt Frühwald. „Ansonsten wird die vierte eine Kinderwelle.“
Denn ein Impfangebot für Kinder unter zwölf Jahren ist derzeit noch nicht in Sicht. Für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 gibt es zwar einen Impfstoff, aber noch keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission. „Je schneller wir auch die Jugendlichen impfen können, desto eher ist eine schlimme vierte Welle vermeidbar“, sagt Gerstlauer, der zudem befürchtet, dass sich die während der ersten Welle überfüllten Intensivstationen bei einem schweren Verlauf auf die Kinderstationen verlagern. Was alle drei Mediziner festhalten wollen: „Wir wollen keine Panik machen und sind einfach nur besorgt um die Zukunft der Kinder und Jugendlichen.“
Trifft eine vierte Welle vor allem die Kinder?