Ein Hotel mit Vorbildcharakter
Sommerserie Auf dem Arbeitsmarkt tun sich viele Menschen mit Beeinträchtigung oft noch sehr schwer. Zwei Betroffene erzählen. Mithilfe eines Augsburger Vereins haben sie eine Stelle gefunden / Folge zwei
Mutige Macher, Menschen, die viel Zeit, Energie und Herzblut in aufwendige Projekte stecken, können die Welt verändern. Im Kleinen und im Großen. In unserer neuen Sommerserie „Ideen für ein besseres Bayern“wollen wir solche Menschen und Projekte vorstellen. Um Inklusion, dieses viel beschworene Miteinander von behinderten und nicht behinderten Menschen, geht es in der zweiten Folge. Im Mittelpunkt steht ein Augsburger Hotel.
Augsburg Wer ist hier jetzt eigentlich beeinträchtigt? Manchmal kommt diese Frage tatsächlich. Doch stellen werden sie sich viele Gäste im Augsburger Hotel „einsmehr“. Oft natürlich nur im Stillen. Etwa wenn sie Martina Deml an der Bar beobachten. Diese aufgeschlossene junge Frau, die einen so lebensfrohen Eindruck macht. Oder wenn Benjamin Mannsbart mit ein paar frisch zubereiteten Köstlichkeiten stolz lächelnd aus der Küche kommt. Oder hat die Dame an der Rezeption ein Handicap? Karin Lange weiß, was sich in vielen Köpfen abspielt, wenn das Wort Behinderung zu hören ist: Es erscheinen Bilder von Menschen, die schon von außen sichtbar krank und hilflos sind, sagt sie. Menschen, die nicht arbeiten können. Gerade gegen diese Vorurteile kämpft die Vorsitzende des Vereins „einsmehr“an. Sie will gemeinsam mit den anderen Eltern, die sich in dem Verein zusammengetan haben, endlich die Hürden abbauen, die es Menschen mit Handicap so schwer machen, eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu erhalten, die ihnen auch den Zugang zum sogenannten ersten Arbeitsmarkt erschweren.
Denn diese Chance werde einem verwehrt, sagt Benjamin Mannsbart. Der 35-Jährige arbeitet im Hotel „einsmehr“als Koch. Zuvor war er in der Küche einer Förderwerkstätte. Und das wäre er seines Erachtens bis an sein Berufslebensende auch geblieben, weil für Menschen wie ihn, für Menschen mit einer leichten Einschränkung, der sogenannte erste Arbeitsmarkt verschlossen bleibe. „Uns traut man einfach viel zu wenig zu. Wir werden oft nur auf unsere Schwächen reduziert“, sagt Mannsbart und erntet ein Nicken von seiner Kollegin Martina Deml. Auch die 24-Jährige ist überzeugt davon, dass in Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung Kompetenzen schlummern, die einfach nicht gesehen werden. Wer einmal in einer Förderwerkstätte ist, das habe sie selbst erfahren, komme da schlecht wieder raus. Umso mehr freut sie sich, jetzt im „einsmehr“ Ausbildung zur Hotelfachfrau beginnen zu können. Wer Martina Deml sieht, fragt sich in der Tat, wo die Einschränkung denn nun bei ihr liegt? Dabei ist ihr Schicksal wahrlich ein besonders hartes. Sie leidet am Loeys-Dietz-Syndrom, einer sehr seltenen Erbkrankheit, die, wie sie sich selbst ausdrückt, ihren Körper extrem schnell altern lässt: „Ich habe heute mit 24 Jahren den Körper einer 75-Jährigen mit den entsprechenden Gebrechen.“Aufgrund ihrer Erkrankung fällt sie öfter von einer Sekunde auf die andere in Ohnmacht, „doch ich habe mir antrainiert, immer auf die linke, stabile Seite zu fallen“, erzählt sie. Wer hört, dass sie den Körper einer alten Frau hat, fragt sich unweigerlich, wie lange dann ihre Lebenserwartung ist. Martina Deml scheint die erschrockene Frage nur allzu gut zu kennen und sagt: „Meine Lebenserwartung ist dementsprechend niedrig, sie liegt bei etwa 30 Jahren.“Warum aber will jemand, der schätzungsweise nur noch einige Jahre zu leben hat, unbedingt arbeiten? „Ich habe mir die Frage auch gestellt“, sagt sie und lächelt. „Doch ich gehe einfach sehr gerne arbeiten, mir macht die Arbeit wirklich Spaß und ich finde Menschen so interessant.“
Doch eine andere Frage drängt sich auf: Warum stellt ein Hoteldirektor eine junge Dame ein, die auch mal mit einem Tablett Gläser in Ohnmacht zu fallen droht? Raul
Huerga Kanzler blickt einen ruhig an und sagt beinahe lakonisch: „Ein anderer kann auch stolpern und den Gläserinhalt über die Gäste kippen.“Nun sind das Ehepaar Raul und Sandra Huerga Kanzler keine weltfremden Idealisten. Beide bringen sehr viel Erfahrung aus der Hotelbranche mit. Das Hotel „einsmehr“muss sich auf dem freien Markt bewähren. Nur die Anschubfinanzierung fällt bei einem Inklusionsbetrieb wie dem „einsmehr“, bei dem etwa die Hälfte der 21 Mitarbeiter ein Handicap hat, üppiger aus. Neben dem Bezirk Schwaben und der Stadt Augsburg haben vor allem die Aktion Mensch und das Inklusionsamt beim Start im November 2020 kräftig mitgeholfen.
Allerdings war der Beginn dank Corona auch schwieriger als gedacht. Sind es doch vor allem geeine schäftliche Gründe, die Menschen im „einsmehr“übernachten lassen. Aber auch Angehörige vom visa-vis gelegenen Universitätsklinikum wählen gerne das Hotel, erzählt Sandra Huerga Kanzler beim Rundgang durch die Zimmer, bei deren Ausstattung vor allem auf Nachhaltigkeit und Regionalität gesetzt wurde. Denn die stellvertretende Direktorin ist überzeugt davon, nachhaltig und sozial sind in der Hotelbranche keine kurzlebigen Trends, sondern die Zukunft. Sozial vor allem deshalb, weil die Branche händeringend Mitarbeiter sucht.
Dass in Zukunft auch mehr Menschen mit Behinderung in der Hotelbranche eine Chance haben, daran will Karin Lange mit den Eltern im Verein „einsmehr“arbeiten: Denn auch wenn der Name des Vereins auf das eine Chromosom mehr hinweist, das Menschen aufweisen, die das Down-Syndrom haben, so setzt sich der Verein generell für Inklusion ein. Nötig ist nach Einschätzung von Karin Lange viel mehr Aufklärung. Vor allem auch in Unternehmen. Denn viele Betriebe zahlen ihrer Beobachtung nach einfach die Ausgleichsabgabe, ohne weiter zu überlegen, warum sie einem behinderten Menschen nicht wenigstens eine Chance geben. „Das Thema haben viele einfach nicht im Blick.“Hinzu kämen die vielen Vorurteile. Viele Betriebe fürchten ihres Erachtens einen extremen
Mehraufwand, wenn sie Menschen mit Handicap einstellen, und glauben, die Mitarbeiter nicht mehr loszubekommen, falls es nicht klappt.
Karin Lange will aber nicht nur Unternehmen aufklären. Die 49-Jährige geht auch regelmäßig an Schulen. „Ein Kind mit Down-Syndrom, so meinen ganz viele schon in der neunten Klasse, bedeute definitiv das Ende“, hat sie erfahren. Daher erzählt sie vor den Klassen von ihren eigenen Söhnen, wovon einer das Down-Syndrom hat. „Nikolas fährt Ski, Inlineskater, geht auf Geburtstagspartys, fährt in Urlaub – wo bitte ist da also das Ende?“, fragt sie dann die Schülerinnen und Schüler.
Jochen Mack, der Geschäftsführer des Hotels „einsmehr“, hat ebenfalls einen Sohn mit DownSyndrom. Macks Mission ist klar: „Menschen mit Beeinträchtigungen brauchen einen Platz mitten in unserer Gesellschaft.“So wichtig seiner Meinung nach Förderstätten für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen sind, allein der Weg von der sonderpädagogischen Schule in die Werkstatt sei zu wenig. „Wir müssen mehr Möglichkeiten schaffen.“Auch mehr Möglichkeiten der Begegnung. Wie andere Inklusionshotels in Deutschland soll das „einsmehr“weit in die Region ausstrahlen. Denn Mack sagt: „Inklusion wird bei uns zwar großgeschrieben, aber nicht groß gelebt.“