Das Theaterwunder von Kempten
Entwicklung Intendantin Silvia Armbruster hat die Bühne beharrlich nach vorne gebracht. Jedes Jahr holt sie ein paar tausend Zuschauer mehr ins Haus. Wie hat sie das bloß geschafft?
Kempten Nach den vielen coronabedingten Verschiebungen und Absagen hat das Theater in Kempten in den letzten Wochen ein regelrechtes Feuerwerk an Vorstellungen gezündet. Intendantin Silvia Armbruster und ihr kleines Team boten Bühnenkunst nicht nur im Stadttheater, sondern auch bei Wirtshaus-Aufführungen draußen auf dem Land sowie unter freiem Himmel. Auf der Burghalde, einem felsigen Hügel inmitten Kemptens mit einem in die Jahre gekommenen, aber stimmungsvollen Amphitheater startet in diesen Tagen die zweite Staffel des „Märchensommers Allgäu“. Armbruster persönlich hat das vergnügliche und mit Musik grundierte Familienstück „Aladin und die Wunderlampe – neu erleuchtet“für die Open-Air-Bühne inszeniert. Wie schon in den beiden Vorjahren kommt das bestens an. Trotz Corona-Beschränkungen sahen schon 5000 kleine und große Besucher und Besucherinnen „Aladin“, und in den nächsten zehn Tagen werden noch ein paar Tausend dazukommen.
Nicht nur der Märchensommer, sondern viele weitere Produktionen aus dem eigenen Haus zeigen Silvia Armbrusters Anspruch, trotz beschränkter Mittel Inszenierungen mit großen Ambitionen auf die verschiedenen Bühnen zu bringen. Bald nachdem sie 2015 das Theater in Kempten übernommen hatte, krempelte sie den Spielplan um. Entscheidend war die konsequente Umstellung von einem Gastspieltheater mit einzelnen Eigenproduktionen hin zu einem RepertoireTheater mit Gastspielen. Dafür baute sie kontinuierlich ein eigenes Ensemble mit inzwischen vier Schauspielerinnen und Schauspielern auf. Mit ihnen sowie Gastakteuren möchte sie in der kommenden Saison sogar neun neue Stücke produzieren.
Dafür ist das schmucke Theaterhaus mit seinen gut 500 Sitzplätzen eigentlich gar nicht gedacht gewesen. Nach der umfassenden Renovierung Mitte der 2000er Jahre bestellte die Stadt zwar erstmals einen Intendanten – Peter Baumgardt, der in den 1990er Jahren das Augsburger Theater geleitet hatte. Doch die von da an als „Theater in Kempten“firmierende Bühne sollte weiterhin Gastspiele nach Kempten holen und nur zwei, drei Eigenproduktionen temporär verpflichteten Schauspielern und Schauspielerinnen bieten. Auch von den Räumlichkeiten her ist das Stadttheater, einst der Salzstadel Kemptens, nicht ausgelegt für ein Repertoiretheater mit eigenem Ensemble, Platz für Requisiten, Büros oder gar Werkstätten. Doch schon Baumgardt und nach ihm Nikola Stadelmann wollten mehr aus dem historischen Haus machen. Weil sich das finanziell, organisatorisch und strukturell nicht realisieren ließ, verabschiedeten sich beide entnervt aus Kempten.
Silvia Armbruster übernahm das Theater mit dem Wissen um die beschränkten Möglichkeiten. Sie hatte aber bald zündende Ideen, wie sich doch etwas bewegen lässt. Prompt stellte sich Erfolg ein. Die Neukonzeption des Spielplans lockte erheblich mehr Publikum an. Die Zuwächse sind so erstaunlich hoch, dass man von einem kleinen Theaterwunder sprechen kann. Während in der Saison 2015/16 noch knapp 17 000 Besucherinnen und Besucher gezählt wurden, waren es in der Spielzeit darauf schon 20000 (plus 22 Prozent). 2017/18 kletterte die Zahl weiter auf 23000 Zuschauer (plus 15 Prozent), und 2018/19, also in der letzten kompletten Spielzeit vor der Corona-Pandemie mit all den Lockdowns und viertelvollen Sälen, kamen weitere 3000 hinzu – plus 13 Prozent. Die Auslastung erreichte fast 90 Prozent. Eine Zahl, von der viele Theaterhäuser nur träumen können.
Die enorme Attraktivitätssteigerung führt Silvia Armbruster vor allem auf Mundpropaganda zurück. Durch das wiederholte Aufführen der Eigenproduktionen spreche sich herum, dass sich ein Besuch lohne. Die Bühne sei dadurch noch stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt, sagt die 54-Jährige. „Das hat eine wahre Theaterbegeisterung ausgelöst.“Mundpropaganda funktioniert freilich nur, wenn die Inszenierungen gut sind. Die Produktionen, die oft die Theaterchefin selbst verantwortet, erfüllen durchweg zwei wesentliche Bedingungen für Erfolg: Sie sind anspruchsvoll und unterhaltsam zugleich; und neben den allfälligen Klassikern gibt es regelmäßig Produktionen, die den Finger am Puls der Zeit haben.
Drei Beispiele sollen dies veranschaulichen. Bei ihrer Inszenierung von Shakespeares „Sturm“hat sich Armbruster jede Menge einfallen lassen, um die Geschichte des rachedurstigen Ex-Herzogs Prospero für uns Heutige schmackhaft zu erzählen. Aus dem Drama von 1611 machte sie eine rasante, ironischfreche Komödie, bei der Witz und Ernst stimmig ineinanderfließen. Zum Auftakt der gerade abgelaufenen Spielzeit brachte sie in einer Uraufführung „No Planet B“von Nick Wood auf die Bühne, ein pädagogisch angehauchtes Stück, das die Klimakatastrophe und die Fridaysmit for-Future-Bewegung aufgreift. Und in der kommenden Saison soll es mit einer dramatisierten Fassung von Sebalds „Ausgewanderten“eine Inszenierung geben, die sich mit dem Verlust von Heimat, mit Migration und Fremdsein beschäftigt. Armbruster rückt mit dieser Uraufführung auch den Schriftsteller W. G. Sebald ins regionale Bewusstsein, der im Oberallgäuer Dorf Wertach aufwuchs und nach England auswanderte, wo er zuletzt Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia war. Sebald galt als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, als er 2001 mit nur 57 Jahren bei einem Autounfall infolge eines Herzinfarktes starb.
Solches Theater spricht auch junge Leute an. Längst sind im Publikum nicht mehr so viele graue Köpfe zu sehen wie früher. Die Schulen sind ebenfalls auf den Geschmack gekommen und buchen viel öfter als in früheren Jahren Vormittags-Vorstellungen. Generell ist die Zahl an Veranstaltungen im Theater enorm gestiegen – von 90 beim Amtsantritt Armbrusters vor sechs Jahren auf fast 200 in der kommenden Spielzeit.
Widerstände bei dieser Expansion hat Armbruster mit ihrer zupackenden Art immer wieder überwunden. Im Lager des Theaters richtete sie eine Werkstattbühne für Proben und kleine Aufführungen ein, für die Requisiten mietete sie Räume in der ehemaligen Kaserne, die Theaterbüros lagerte sie in ein leer stehendes Ladengeschäft visà-vis des Theaters aus. Aus der Welt geschafft ist inzwischen auch ein anderes Ärgernis, das die Arbeit immer erschwert hatte: Nach vielen Jahren, in denen Silvia Armbruster sowohl das Theater als auch die Techniker aus steuerlichen Gründen immer wieder neu von einer anderen Abteilung der Stadt anmieten musste, ist sie seit Jahresbeginn endlich Herrin im eigenen Haus.
Nun will die umtriebige Intendantin noch eine Liga höher steigen und in den Deutschen Bühnenverein aufgenommen werden. Das würde Zuschüsse vom Freistaat Bayern bringen, die finanzielle Situation sähe dann deutlich besser aus – und Armbruster könnte sich noch mehr Schauspieler leisten. Langfristig, sagt sie, strebe sie ein Ensemble mit fünf bis sieben Akteurinnen und Akteuren an.
Die Intendantin führt oft selbst die Regie