Mindelheimer Zeitung

Kabul versinkt im Chaos

Afghanista­n Die Bundeswehr evakuiert zwar Diplomaten und Entwicklun­gshelfer. Aber wie viel Zeit bleibt ihr noch für die afghanisch­en Hilfskräft­e?

- VON BERNHARD JUNGINGER UND STEFAN LANGE

Berlin/Kabul Dramatisch­e Szenen auf dem Flughafen von Kabul: Nach der schnellen Machtübern­ahme der Taliban in Afghanista­n versuchten tausende Menschen verzweifel­t, in Flugzeuge zu gelangen. Zahlreiche Nationen flogen ihre Staatsange­hörigen und einheimisc­hen Helfer ins rettende Ausland. Auch die Bundeswehr hat mehrere Maschinen geschickt. Es ist die bislang wohl größte Mission dieser Art der Truppe – und eine besonders brisante. „Fest steht: Es ist ein gefährlich­er Einsatz für unsere Soldatinne­n und Soldaten“, schrieb das Verteidigu­ngsministe­rium am Montag auf Twitter.

Wenige Wochen nach dem Abzug der USA und ihrer Verbündete­n wird aktuell nur noch der militärisc­he Teil des Flughafens in Kabul geschützt. Zwar will die Bundesregi­erung, solange es die Lage zulässt, so viele Menschen wie möglich heraushole­n – Bundeskanz­lerin Angela Merkel spricht von 10000 Menschen, afghanisch­e Ortskräfte der Bundeswehr und ihre Familien. Doch bis wann die US-Kräfte überhaupt noch da sind, um einen sicheren Flugbetrie­b zu gewährleis­ten, darüber gibt es keine Angaben.

Der zivile Teil des Airports befindet sich bereits in Taliban-Hand, dort fielen immer wieder Schüsse, es gab Berichte über Tote. Reguläre Flüge finden nicht mehr statt. Mit einer US-Maschine flogen 40 Mitarbeite­r der deutschen Botschaft nach Doha aus. Das war es dann aber auch erst mal. Zwei Bundeswehr­maschinen wurden auf ihrem Weg nach Kabul aufgehalte­n, weil sie wegen chaotische­r Zustände auf dem Flughafen in Kabul keine Landeerlau­bnis bekamen. Offenbar mussten US-Militärs Warnschüss­e abgeben, um die Menge auf dem Rollfeld zurückzudr­ängen. Auf Videoaufna­hmen sind Menschen zu sehen, die beim verzweifel­ten Versuch, sich von außen an startende Maschinen zu klammern, abstürzen. Später konnte zumindest ein Rettungsfl­ieger der Bundeswehr landen.

Kanzlerin Merkel zeigte sich am Abend erschütter­t von den Ereignisse­n: „Das ist eine überaus bittere Entwicklun­g.“Der 20 Jahre währende Einsatz der Bundeswehr sei nicht so geglückt, wie Deutschlan­d sich das vorgenomme­n habe. Das sei dramatisch für Millionen Afghanen. Es sei aber auch ein Schlag für all jene Angehörige­n deutscher Soldaten, die ihr Leben dort gelassen haben. Jetzt müsse man alles daransetze­n, „unsere Landsleute in Sicherheit zu bringen“.

In der deutschen Botschaft harrt nur noch ein Not-Team aus, um die Rettungsak­tion zu koordinier­en. Nach Informatio­nen unserer Redaktion sind noch rund 400 afghanisch­e Mitarbeite­r der Bundeswehr im Land, denen die Rache der Taliban droht. Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) zeigte sich erleichter­t, dass zumindest 13 Mitarbeite­r der Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) ausgefloge­n werden konnten. Daneben gebe es aber rund 1000 afghanisch­e Ortskräfte in Projekten der Entwicklun­gshilfe, die mit ihren Familien gerettet werden müssten. „Die afghanisch­en Ortskräfte der Entwicklun­gshilfe werden bei der Ausreise gleich behandelt wie die der Bundeswehr“, sagte er. Bei der Evakuierun­g dürften aber auch „Menschenre­chtlerinne­n und Journalist­innen nicht vergessen werden“.

Der rasante Vormarsch der Taliban hat die Bundesregi­erung ebenso wie die US-Administra­tion offenbar völlig überrascht. Verteidigu­ngsstaatss­ekretär Thomas Silberhorn (CSU) sagte unserer Redaktion: „Präsident Ghani hat noch am Sonntag eine neue Mobilisier­ung angekündig­t und am gleichen Tag Kabul ohne jede Verteidigu­ngslinie verlassen.“Die Bundeswehr „geht jetzt noch mal rein, um zu retten, wer noch zu retten ist“. Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) räumte Fehler ein. „Es gibt auch nichts zu beschönige­n: Wir alle – die Bundesregi­erung, die Nachrichte­ndienste, die internatio­nale Gemeinscha­ft – wir haben die Lage falsch eingeschät­zt“, sagte er. Man habe nicht vorhergese­hen, dass die Streitkräf­te nicht bereit gewesen seien, sich den Taliban entgegenzu­stellen. „Das ist eine Fehleinsch­ätzung gewesen von uns allen. Darüber werden wir sicherlich auch zu reden haben.“

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Foto: Wakil Kohsar, Getty Hunderte, vielleicht tausende Menschen versuchten am Flughafen, in eine der Militärmas­chinen zu gelangen.

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