Kabul versinkt im Chaos
Afghanistan Die Bundeswehr evakuiert zwar Diplomaten und Entwicklungshelfer. Aber wie viel Zeit bleibt ihr noch für die afghanischen Hilfskräfte?
Berlin/Kabul Dramatische Szenen auf dem Flughafen von Kabul: Nach der schnellen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchten tausende Menschen verzweifelt, in Flugzeuge zu gelangen. Zahlreiche Nationen flogen ihre Staatsangehörigen und einheimischen Helfer ins rettende Ausland. Auch die Bundeswehr hat mehrere Maschinen geschickt. Es ist die bislang wohl größte Mission dieser Art der Truppe – und eine besonders brisante. „Fest steht: Es ist ein gefährlicher Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten“, schrieb das Verteidigungsministerium am Montag auf Twitter.
Wenige Wochen nach dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten wird aktuell nur noch der militärische Teil des Flughafens in Kabul geschützt. Zwar will die Bundesregierung, solange es die Lage zulässt, so viele Menschen wie möglich herausholen – Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von 10000 Menschen, afghanische Ortskräfte der Bundeswehr und ihre Familien. Doch bis wann die US-Kräfte überhaupt noch da sind, um einen sicheren Flugbetrieb zu gewährleisten, darüber gibt es keine Angaben.
Der zivile Teil des Airports befindet sich bereits in Taliban-Hand, dort fielen immer wieder Schüsse, es gab Berichte über Tote. Reguläre Flüge finden nicht mehr statt. Mit einer US-Maschine flogen 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft nach Doha aus. Das war es dann aber auch erst mal. Zwei Bundeswehrmaschinen wurden auf ihrem Weg nach Kabul aufgehalten, weil sie wegen chaotischer Zustände auf dem Flughafen in Kabul keine Landeerlaubnis bekamen. Offenbar mussten US-Militärs Warnschüsse abgeben, um die Menge auf dem Rollfeld zurückzudrängen. Auf Videoaufnahmen sind Menschen zu sehen, die beim verzweifelten Versuch, sich von außen an startende Maschinen zu klammern, abstürzen. Später konnte zumindest ein Rettungsflieger der Bundeswehr landen.
Kanzlerin Merkel zeigte sich am Abend erschüttert von den Ereignissen: „Das ist eine überaus bittere Entwicklung.“Der 20 Jahre währende Einsatz der Bundeswehr sei nicht so geglückt, wie Deutschland sich das vorgenommen habe. Das sei dramatisch für Millionen Afghanen. Es sei aber auch ein Schlag für all jene Angehörigen deutscher Soldaten, die ihr Leben dort gelassen haben. Jetzt müsse man alles daransetzen, „unsere Landsleute in Sicherheit zu bringen“.
In der deutschen Botschaft harrt nur noch ein Not-Team aus, um die Rettungsaktion zu koordinieren. Nach Informationen unserer Redaktion sind noch rund 400 afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr im Land, denen die Rache der Taliban droht. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zeigte sich erleichtert, dass zumindest 13 Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ausgeflogen werden konnten. Daneben gebe es aber rund 1000 afghanische Ortskräfte in Projekten der Entwicklungshilfe, die mit ihren Familien gerettet werden müssten. „Die afghanischen Ortskräfte der Entwicklungshilfe werden bei der Ausreise gleich behandelt wie die der Bundeswehr“, sagte er. Bei der Evakuierung dürften aber auch „Menschenrechtlerinnen und Journalistinnen nicht vergessen werden“.
Der rasante Vormarsch der Taliban hat die Bundesregierung ebenso wie die US-Administration offenbar völlig überrascht. Verteidigungsstaatssekretär Thomas Silberhorn (CSU) sagte unserer Redaktion: „Präsident Ghani hat noch am Sonntag eine neue Mobilisierung angekündigt und am gleichen Tag Kabul ohne jede Verteidigungslinie verlassen.“Die Bundeswehr „geht jetzt noch mal rein, um zu retten, wer noch zu retten ist“. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumte Fehler ein. „Es gibt auch nichts zu beschönigen: Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, sagte er. Man habe nicht vorhergesehen, dass die Streitkräfte nicht bereit gewesen seien, sich den Taliban entgegenzustellen. „Das ist eine Fehleinschätzung gewesen von uns allen. Darüber werden wir sicherlich auch zu reden haben.“