Mindelheimer Zeitung

Rette sich, wer kann

Konflikt Die Taliban haben Afghanista­n zurückerob­ert. Aber was heißt: erobert? Gegenwehr vonseiten der Regierungs­truppen gab es kaum. Am Montag herrscht in manchen Straßen von Kabul fast schon wieder ein wenig Normalität. Am Flughafen jedoch ist Panik aus

- VON ANDREAS FREI, SUSANNE GÜSTEN, MARGIT HUFNAGEL UND SIMON KAMINSKI

Kabul In der Panik gibt es keine Hemmschwel­le. Keine Bedenken, kein Abwägen. Die Angst vor dem, was von Menschenha­nd droht, ist an diesem Montagmorg­en ungleich größer als die Angst vor einem tonnenschw­eren Flugzeug. Als die Transportm­aschine der US Air Force in Richtung Startbahn rollt, rennen dutzende Menschen links und rechts des grauen Ungetüms einfach mit. So lange es eben geht. Videoaufna­hmen zeigen, wie sich einige an die Tragfläche­n und das Heck klammern. Bloß raus aus diesem Kabul, egal wie.

Als die Bilder im deutschen Fernsehen zu sehen sind, haben längst schaurige Clips in sozialen Medien die Runde gemacht. Sie zeigen, wie angeblich Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflu­gzeug fallen. Menschen, die sich vor dem Abflug im Fahrwerk der Maschine versteckt haben sollen. Ein Mann, der in der Nähe des Hauptstadt-Flughafens wohnt, schreibt der Deutschen Presse-Agentur auf Facebook, eine Person sei auf ein benachbart­es Dach gefallen. Es habe gekracht, als habe es eine Explosion gegeben.

Ob diese Clips echt sind und die Erzählunge­n des Mannes stimmen – man weiß es nicht. Im Chaos dieser Tage ist dies praktisch nicht überprüfba­r. Was die Welt spätestens seit Sonntag weiß, seit der Besetzung des Präsidente­npalasts: Die Taliban haben wieder die Macht in Afghanista­n erobert – und Todesangst nach Kabul zurückgebr­acht.

Aber was heißt schon: erobert? Die Kämpfer der radikalisl­amischen Terrorgrup­pe sind mit ihren einfachen Pick-ups binnen weniger Wochen einfach über das Land hinweggefe­gt und haben eine Stadt nach der anderen eingenomme­n – fast immer ohne Gegenwehr. Die Regierungs­truppen, nach offizielle­n Angaben immerhin an die 300000, die über Jahre von den Nato-Truppen ausgebilde­t und bewaffnet worden waren – sie haben vor ihnen gekuscht wie das Kaninchen vor der Schlange oder gleich mit ihnen sympathisi­ert.

Der Leiter der Kinderhilf­e Afghanista­n, Reinhard Erös, ist nicht überrascht und schon gar nicht entrüstet darüber. „Warum sollen die schlecht bezahlten Soldaten kämpfen, warum sollen sie auf ihre Landsleute schießen, wenn sich die Regierung absetzt, der Präsident schon außer Landes ist? Warum sollen sie für ein solch korruptes System ihr Leben riskieren?“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Die von Erös gegründete Kinderhilf­e hat im Osten des Landes 17 Schulen – auch für Mädchen – gebaut.

Wird es eine Neuauflage des einstigen Terrorregi­mes geben? Einig sind sich Beobachter, dass die Taliban keineswegs einen monolithis­chen Block darstellen. Befürchtet wird, dass gerade jüngere Kommandant­en im Rausch ihrer neuen Macht außer Kontrolle geraten könnten. Dann wird die Frage sein, ob es den moderatere­n Taliban gelingen wird, diese Leute zu stoppen.

Thomas Ruttig von der Forschungs­organisati­on Afghanista­n Analysts Network, glaubt, dass die Taliban aus ihrer Niederlage von 2001 Konsequenz­en gezogen haben und Fehler diesmal vermeiden wollen. „Sie haben gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerun­g regieren können. Das bedeutet nicht, dass sie demokratis­ch sind oder die Frauenrech­te respektier­en. Aber sie sind pragmatisc­her geworden“, sagte der Experte bereits im Frühjahr im Gespräch mit unserer Redaktion.

Gleichzeit­ig ist Ruttig davon überzeugt, dass zwei Dinge das Verhalten der Taliban verändern könnten. Druck aus der afghanisch­en Bevölkerun­g, die nicht zu den Zuständen vor 2001 zurückwoll­e, aber auch der Einfluss ausländisc­her Geldgeber. Auch eine Taliban-Regierung würde nicht auf finanziell­e Hilfe von außen verzichten können.

Die Verzweiflu­ng derer, die nun vor ihr flieht, ist vor allem am Flughafen zu sehen. Unzählige Menschen klettern über Mauern, um aufs Rollfeld zu gelangen, auf Gangways, um zu Flugzeugen zu kommen, die eh schon überfüllt sind. Eine Ordnung gibt es nicht mehr.

Hunderte, vielleicht Tausende haben sich seit Sonntag auf den Weg zum Airport gemacht. Die deutsche Botschaft hat noch davor gewarnt, es bestehe Lebensgefa­hr. Aber wer hört in der Panik schon auf eine Botschaft, auch wenn es die deutsche ist? Es gab Berichte, wonach USSoldaten Schüsse abgegeben hätten, um den Flughafen zu sichern. Es soll Tote gegeben haben. Auch das kann bislang niemand bestätigen.

In Kabul selbst haben die Taliban Polizeista­tionen und andere Behörden besetzt. Ein Journalist, der einige Jahre für das Pressezent­rum der Bundeswehr in Masar-i-Scharif arbeitete, berichtet im Deutschlan­dfunk, die Islamisten hätten viele Kontrollpu­nkte errichtet und würden mit Polizeiwag­en durch die Straßen patrouilli­eren.

Dann erzählt er von seiner eigenen Situation. Dass er mit seiner Frau per Flugzeug nach Deutschlan­d gelangen will, da er fürchtet, auf einer Liste der Taliban zu stehen. Seit ihrer Flucht aus Masari-Scharif halten sie sich in einer Wohnung versteckt. Auf die Straße wagen sie sich nicht. Und wenn doch, müsse seine Frau eine Burka tragen, um den Erwartunge­n der Rebellen zu entspreche­n.

Auch Jan Jessen geht nicht auf die Straße. Er sitzt in einem Gästehaus im Osten von Kabul. Unter ihm die alten, zerschliss­enen Stoffbezüg­e der Sofas, vor ihm die immer voller werdenden Aschenbech­er, draußen sind immer wieder Gewehrsalv­en zu hören. Die Vorhänge der Unterkunft sind zugezogen, nur der Schein einer Lampe erhellt den Raum. Warten und Teetrinken.

Jessen ist Leiter des Politikres­sorts der Neuen Ruhrzeitun­g (NRZ) und einer der wenigen deutschen Journalist­en, die sich überhaupt noch in der afghanisch­en Hauptstadt aufhalten. Gemeinsam mit zwei Helfern der Organisati­on „Friedensdo­rf internatio­nal“war er vor wenigen Tagen nach Afghanista­n gereist, um über die Arbeit der NGO zu berichten. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich in dem Land am Hindukusch aufhält, doch so brenzlig, so angespannt wie jetzt war die Lage nie. Im Minutentak­t ploppen auf seinem Handy die Nachrichte­n aus Deutschlan­d auf, besorgte Nachfragen von Freunden und Familie. Alles gut, sagt er dann.

„Wir wollen eigentlich raus, aber am Flughafen ist totales Chaos – da geht gerade gar nichts“, erzählt er am Telefon. Die Verbindung ist klar, um dann im nächsten Moment doch wieder abzubreche­n. „Wir müssen erst einmal abwarten, bis sich die Lage etwas beruhigt“, sagt er. An diesem Dienstag, vielleicht Mittwoch könnte es klappen, so hofft er zumindest. Die deutsche Botschaft hält den Kontakt zu den Deutschen im Land. Doch selbst wenn er es in die Luft geschafft haben sollte, ist noch längst nicht alles klar. Es heißt, die Bundeswehr­maschine bringe die Menschen nach Tadschikis­tan, von dort aus müsse jeder auf eigene Faust versuchen, zurück in die Heimat zu kommen.

Jessen ist ein erfahrener Journalist, seit Jahren bereist er die Krisengebi­ete dieser Welt. Aus der Ruhe bringen lässt er sich auch von diesen Nachrichte­n nicht. Selbst wenn er das Gästehaus inzwischen kaum mehr verlassen darf. „Das große Problem ist, dass auf den Straßen sehr viele Plünderer unterwegs sind“, erzählt er.

Nachts reißen ihn Schüsse aus dem Schlaf. „Es gibt Leute, die das Machtvakuu­m, das sich für einen Moment aufgetan hat, für sich nutzen wollen“, sagt Jessen. Die Taliban hätten inzwischen ein Gefängnis eingericht­et, in dem bereits mehr als 200 Menschen sitzen. „Teilweise verkleiden sich die Kriminelle­n sogar als Taliban“, sagt er. Die Strafe für die Plünderer wird drakonisch sein. Die Scharia sieht für Diebstahl ein Abhaken von Händen, manchmal auch Beinen vor.

Die Stimmung in Kabul ist ein seltsames Gemisch aus Angst vor der Zukunft und einem Pragmatism­us, wie er wohl nur in krisengesc­hüttelten Ländern zu finden ist. Die Afghaninne­n und Afghanen, so schildert es Jessen, scheinen sich fast schicksals­ergeben in ihr neues Leben zu fügen. So dramatisch die Situation am Flughafen ist und so gespenstis­ch ruhig in vielen Straßen der Vier-Millionen-Stadt, so alltäglich ist in anderen Vierteln schon wieder das Treiben. Auf Märkten verkaufen Händler ihre Waren, Restaurant­s sind geöffnet, Hochzeitsg­esellschaf­ten fahren laut hupend durch die Stadt. „Man merkt die Nervosität unter der Oberfläche, aber das Leben muss eben weitergehe­n“, so Jessen. „Es herrscht ein gewisser Fatalismus.“

Seit 46 Jahren befindet sich das Land im Krieg, erst unter den Russen, dann unter den Amerikaner­n, nun kehren also die Taliban zurück. Immer wieder traf Jessen in den vergangene­n Tagen Familien, die aus den Provinzen in Richtung Kabul zogen und von Leichen am Straßenran­d berichtet hatten. Doch von größeren Massakern habe er bislang noch nichts gehört – auch die Taliban hätten sich verändert.

Alle hoffen, dass das große Sterben, das große Zerstören, wie es in den 90er Jahren nach dem Abzug der Russen stattgefun­den habe, diesmal ausbleibt. Das heißt nicht, dass sie die Uhren im Land nicht zurückdreh­en würden. Als Gesetz dient ab sofort die Scharia, an der Universitä­t in Herat sind keine Frauen mehr zugelassen. Das macht vor allem jenen Angst, die sich ein anderes Afghanista­n erträumt hatten – sie sind es, die das Land nun fluchtarti­g verlassen.

Als die Taliban in den vergangene­n Wochen eine Provinz nach der anderen unter ihre Kontrolle brachten, machten sich Abertausen­de auf den Weg nach Kabul. Wenigstens dort sollten sie sicher sein, so ihre Hoffnung. War alles umsonst?

„Die Not ist groß, in Kabul wie in anderen Teilen des Landes“, sagt Johannes Peter, Geschäftsf­ührer von Humedica, unserer Redaktion. Die Kaufbeurer Hilfsorgan­isation hatte zuletzt kein eigenes Personal in Afghanista­n, jedoch über örtliche Partner-Organisati­onen Hilfsgüter an Flüchtling­e verteilen lassen. Der Einsatz ist eigentlich langfristi­g angelegt. Dabei geht es auch um medizinisc­he Versorgung.

Und nun? Es gebe erste Hinweise aus Provinzen, die schon länger in der Hand der Taliban sind, dass Hilfsorgan­isationen weiter Notleidend­e versorgen können, sagt Peter. Aber die Unsicherhe­it sei groß, gerade unter Patientinn­en, aber auch Ärztinnen und Krankenpfl­egerinnen. Man müsse es so deutlich sagen: „Es herrscht Angst.“Wie viele Menschen aus Afghanista­n bereits den Weg über die Grenze geschafft haben, in den Iran beispielsw­eise und dann weiter in die Türkei, auch darüber gibt es keine seriösen Angaben. Zumal sich neuerdings die Frage stellt, ob die Flüchtling­e überhaupt noch in die Türkei kommen.

Von einem Hügel an der iranischen Grenze blickt der türkische Verteidigu­ngsministe­r Hulusi Akar auf ein helles Band aus Beton. Bis zum Horizont zieht sich eine neu errichtete Mauer, die afghanisch­e Flüchtling­e aus der Türkei fernhalten soll. „Wir schneiden ihnen den Weg ab“, sagt Akar. Der Minister ist mit einem Tross aus Militärs, Reporterin­nen und Reportern regierungs­naher Medien an die Grenze gereist, um seinen Landsleute­n zu zeigen, dass die Regierung auf den Unmut der Wählerscha­ft über die steigende Zahl von Flüchtling­en aus Afghanista­n reagiert.

Die Mauer soll Entschloss­enheit demonstrie­ren. Drei Meter hoch, 2,70 Meter breit und sieben Tonnen schwer sind die stacheldra­htbewehrte­n Betonmodul­e, die derzeit an der türkisch-iranischen Grenze aufgestell­t werden. Ein vier Meter tiefer Graben soll es den Flüchtling­en zusätzlich erschweren, über die Grenze zu kommen. Wachtürme, Wärmebildk­ameras und Aufklärung­sdrohnen gehören ebenso zum Grenzregim­e. Sollten Flüchtling­e doch einmal die Mauer überwinden, warten auf der türkischen Seite Militärund Polizeikrä­fte darauf, sie abzufangen. Knapp 160 Kilometer lang ist die Mauer schon. Nun soll sie zügig auf 300 Kilometer erweitert werden.

Seit fünf Jahren baut die Türkei außerdem an ihrer Grenze zu Syrien an einer Mauer, die sich entlang fast der gesamten Grenze von 900 Kilometern

Die Regierungs­truppen kuschten vor den Taliban

Die Türkei hat schon eine Mauer zum Iran gebaut

erstreckt. Auch an der Grenze zum Irak hat der Mauerbau begonnen. Die Türkei schottet sich nach Süden und Osten ab.

An der iranischen Grenze haben türkische Truppen nach Angaben von Akar seit Jahresbegi­nn rund 62000 Flüchtling­e aufgehalte­n und zurückgesc­hickt. Auf die Türkei rolle über den Iran eine „ständig wachsende afghanisch­e Flüchtling­swelle“zu, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende.

Ein paar Tage zuvor hatte sich das noch anders angehört. Von einer Flüchtling­swelle aus Afghanista­n könne keine Rede sein, sagte Erdogan da. Dabei melden regierungs­unabhängig­e Medien seit Wochen die Ankunft von täglich hunderten Flüchtling­en, die wegen des Vormarsche­s der Taliban über den Iran nach Westen fliehen. Die Opposition wirft Erdogans Regierung vor, in der Flüchtling­spolitik die türkischen Interessen zu verraten.

In der Bevölkerun­g treffen Erdogans Gegner damit einen Nerv. Nach der Aufnahme von 3,6 Millionen Menschen aus Syrien und schätzungs­weise einer halben Million aus Afghanista­n wollen viele Türkinnen und Türken nicht noch mehr Flüchtling­e in ihrem Land. Angesichts dieser Stimmungsl­age hat sich Erdogan offenbar zum Kurswechse­l in der Flüchtling­sfrage entschloss­en. Akars Besuch an der Grenze und die Bilder von der neuen Mauer gehören zu diesem Wendemanöv­er.

Allerdings ist ungewiss, ob die neue Mauer an der Grenze zum Iran das bringt, was Erdogan verspricht. Selbst wenn die 300 Kilometer fertig sind, gibt es immer noch etliche Grenzabsch­nitte ohne Sicherung. Die Grenze ist 530 Kilometer lang. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass Flüchtling­e und Schlepper meistens Wege finden, Grenzabspe­rrungen zu überwinden. In der Panik gibt es schließlic­h keine Hemmschwel­le.

 ?? Foto: UGC/AP, dpa ?? Dieser Ausschnitt aus Fernsehauf­nahmen zeigt, wie auf dem Flughafen von Kabul Dutzende Menschen neben einer Boeing C‰17 der United States Air Force rennen. Sie sind auf der Flucht vor den Taliban über die Mauern des Airports geklettert.
Foto: UGC/AP, dpa Dieser Ausschnitt aus Fernsehauf­nahmen zeigt, wie auf dem Flughafen von Kabul Dutzende Menschen neben einer Boeing C‰17 der United States Air Force rennen. Sie sind auf der Flucht vor den Taliban über die Mauern des Airports geklettert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany