Lieber länger Kindergarten
Bildung Viele Eltern entscheiden sich wegen der Corona-Pandemie dazu, ihre Kinder später einzuschulen. Welche Gründe sie dafür haben und wie das kommende Schuljahr in Bayern wohl aussehen wird
Augsburg Marlenas Schulranzen wird noch ein Jahr im Schrank stehen, bis er gefüllt wird. Mit einem Lesebuch, mit Deutschheften und Arbeitsblättern, auf denen Rechenaufgaben stehen. Mit Dingen eben, die Kinder, die in die erste Klasse gehen, so mit sich herumtragen. Eigentlich wäre Marlena im September in die Schule gekommen. Doch ihre Eltern haben sich entschieden, ihre Tochter lieber noch ein Jahr im Kindergarten zu lassen. Der Corona-Krise wegen.
„Ich glaube, dass auch das kommende Schuljahr stark von der Pandemie beeinflusst sein wird“, sagt Ramona Link, Marlenas Mutter. Und ein erstes Schuljahr, in dem die Kinder womöglich wieder in den Distanzunterricht müssen, will die 31-Jährige aus Elchingen im Landkreis Neu-Ulm ihrer Tochter nicht zumuten. Mit dieser Einstellung ist sie nicht allein.
Eltern von Kindern, die zwischen dem 1. Juli und dem 30. September sechs Jahre alt werden, können entscheiden, ob die Kleinen in die Schule gehen sollen oder lieber noch ein Jahr länger im Kindergarten bleiben. Und wie die Zahlen des bayerischen Kultusministeriums zeigen, hat die Corona-Pandemie einen deutlichen Einfluss auf diese Entscheidung. Bereits im vergangenen Schuljahr lag der Anteil der Kinder innerhalb dieses Einschulungskorridors, deren Schulpflicht um ein Jahr verschoben wurde, bei rund 51 Prozent, wie das Ministerium auf Nachfrage unserer Redaktion mitteilt. Im Herbst 2019 indes – bevor das Virus alles veränderte – betrug der Anteil der „Korridorkinder“, deren Schulpflicht verschoben wurde, nur rund 42 Prozent.
Und jetzt? Die Anmeldezahlen für das Schuljahr 2021/22 deuten dem Ministerium zufolge darauf hin, dass auch in diesem Jahr zahlreiche Eltern ihr Kind erst ein Jahr später einschulen werden. „Ob die Quote der Zurückstellungen dabei gleich bleiben wird, lässt sich derzeit noch nicht beantworten. Die abschließende Klassenbildung erfolgt am ersten Schultag“, erklärt ein Ministeriumssprecher. Amtliche und damit statistisch belastbare Zahlen übermitteln die Schulen dann in der Regel im Oktober.
Ramona Link hat lange überlegt, ob sie ihre Tochter in die Schule schicken soll oder nicht. „Sie wäre psychisch und körperlich schon so weit, dass sie in die Schule gehen könnte“, sagt Link. „Aber ich wünsche mir für sie eben einen normalen ersten Schultag, mit einem großen Fest. Und Unterricht im Klassenzimmer, nicht zu Hause.“Wie sehr das Kinder beeinträchtigen könne, habe sie an ihrer Nichte gesehen, die im vergangenen Herbst in die erste Klasse gekommen ist. „Ich glaube, dass die psychische Belastung für alle Erstklässler groß war“, sagt Link. „Die Kinder wurden völlig aus dem Konzept gebracht.“Würde ihre Tochter diesen September eingeschult, dann bestünde die Gefahr, dass sie zu wenig lernen könnte, meint Link. Dass ihr die Grundlagen wie Lesen, Schreiben, Rechnen Und dass ihr das dann in den nächsten Jahren nachhängt.
Eine allgemeine Einschätzung, ob Erstklässler im vergangenen Corona-Schuljahr Lernrückstände bei so grundlegen Kompetenzen wie eben zum Beispiel der Rechtschreibung hatten, sei nicht möglich, heißt es aus dem Kultusministerium. „Manche Kinder sind mit den schwierigen Bedingungen des vergangenen Schuljahres besser zurechtgekommen als andere“, sagt der Behördensprecher. „Dennoch behalten wir das Fortkommen aller Kinder fest im Blick und haben zum Aufholen von Lernlücken ein umfangreiches Förderprogramm aufgelegt.“
Noch weiß niemand, wie es im Herbst an den Schulen weitergeht. Aber die Sorge, dass es unter den vielen ungeimpften Kindern zu Corona-Ausbrüchen kommt, ist groß.
In allen bayerischen Schulen soll es deshalb nach den Sommerferien eine inzidenzunabhängige Maskenpflicht in den ersten Wochen des neuen Schuljahres geben.
Bayerns Kultusminister Michael Piazolo ist optimistisch, dass das kommende Schuljahr anders laufen wird als das vergangene. „Präsenzunterricht muss im kommenden Schuljahr die oberste Maxime sein. Mit Tests, Lüften und Masken sind wir beim Infektionsschutz gut aufgestellt, viel besser als noch vor einem Jahr“, sagt er gegenüber unserer Redaktion. Inzidenzen rauf – Schulen zu, das dürfe kein Automatismus mehr sein. „Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen den Präsenzbetrieb.“
So sieht das auch Henrike Paede, die stellvertretende Landesvorsitzende des bayerischen Elternverfehlen. bandes. Man habe im vergangenen Jahr gesehen, wie schwer gerade für die Kleinsten der Unterricht von zu Hause aus sei, sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. „Grundschüler waren wirklich besonders schlecht dran.“Dass Eltern ihre Kinder da lieber im Kindergarten ließen, kann sie gut nachvollziehen. „Wer will denn keinen guten Schulstart für sein Kind? Ich denke, die Eltern, die diese Möglichkeit hatten, haben im vergangenen Jahr gut daran getan, ihre Kinder nicht einzuschulen.“Nach den Problemen im vergangenen Jahr glaubt Paede aber, dass das kommende Schuljahr anders verlaufen wird. „Es tut sich einiges, die Schulen schaffen jetzt auch Lüftungsgeräte an. Und durch die Impfungen haben wir einen größeren Schutz in der Bevölkerung.“
Dennoch: Viele Eltern bleiben skeptisch und verzichten darauf, ihr Kind im Herbst in die Schule zu schicken. „Ich wünsche mir für meine Tochter einfach Normalität“, sagte eine Mutter im Gespräch mit unserer Redaktion, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Die 37-Jährige aus dem Landkreis Donau-Ries hat mit ihrem Mann die Entscheidung getroffen, ihr Kind noch im Kindergarten zu lassen. Leicht sei ihr das nicht gefallen. Anfang des Jahres sei sie sich noch sicher gewesen, dass ihre Tochter im September eingeschult wird. „Es gab dann auch ein Gespräch im Kindergarten, wo uns gesagt wurde, dass sie bereit sei“, erzählt die 37-Jährige. „Aber dann kamen allmählich die Zweifel.“Irgendwann stand dann für die Familie fest, dass es einfach zu viele Unwägbarkeiten gibt. „Die erste Klasse ist ja schon die Basis für die kommenden Schuljahre. Wenn es da durcheinandergeht und es keine Struktur gibt, dann ist das für die Kinder sicher prägend. Vielleicht verlieren sie sogar die Lust am Lernen.“