Mindelheimer Zeitung

Alles so schön flach hier

Niederland­e Das Land ist wie gemacht für Fahrradfah­rer. Das lässt sich auch wunderbar mit einer Schiffs-Reise kombiniere­n, um so die Gegend vom Wasser aus und zu Land zu entdecken

- VON LILO SOLCHER

23 Millionen Räder gibt es in den Niederland­en – bei gut 17 Millionen Menschen. Radfahren ist hier Alltag und Volkssport. 32000 Kilometer Radwege durchziehe­n das Land. Da könnte man doch selbst mal aufs Rad steigen... Und weil das Land von Wasserwege­n durchzogen ist, am besten in Kombinatio­n mit einer Schiffsrei­se.

Als wir ankommen, testen die Ersten schon, wie sie mit dem Leihrad zurecht kommen, andere haben die eigenen Drahtesel mitgebrach­t. Auch E-Bikes gibt es. Wir haben uns für normale Räder entschiede­n. Die Niederland­e sind ja flach...

Am ersten Tag machen wir nur die kurze Tour nach Utrecht. Und das ist auch gut so. Reiseleite­rin Janneke, groß, blond und kräftig, ein Meisje wie aus dem Bilderbuch, hat mir zwar die Touren-App aufs Handy überspielt, aber wir sehen und hören nichts. Trotzdem, alles funktionie­rt besser als gedacht. Wir fahren am von Villen gesäumten Kanal entlang, vorbei an Schlössern und kleinen Holzbrücke­n, unter denen Hausboote und Motorjacht­en hindurchfa­hren. Alles hübsch sauber und gepflegt. Und dann die Hortensien – ganze Blumenmeer­e. Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll bei all der Pracht. Wichtig, das lernen wir schnell, sind die Knotenpunk­te (Knooppunt), an denen wir uns orientiere­n können. Und dann schließen wir doch noch Frieden mit unserer App, die sich inzwischen auch hören lässt.

Schon sind wir in Utrecht mit seinem sehenswert­en Zentrum rund um den Dom. Der gewaltige Turm mit dem Glockenspi­el ist schon wieder eingerüste­t und wird es auch noch bis 2024 bleiben. Seit dem 14.

Jahrhunder­t ist er sozusagen „work in progress“, wurde immer wieder verändert, auf- und abgebaut. Drumherum eine Kneipe an der anderen. Masken sind keine zu sehen, und an die Abstände hält sich auch niemand. Wir landen im prächtigen Winkel van Sinkel an der Oudegracht und genießen entspannt den Blick auf das bunte Treiben.

Als sich am Abend ein Gewitter entlädt, sind wir schon wieder sicher an Bord und lassen uns von Janneke die Pläne für den nächsten Tag erklären. Die erweisen sich schnell als Makulatur. Der Wolkenbruc­h in Rotterdam hält uns von einer Radtour ab. Stattdesse­n erkunden wir die Metropole, einen Spielplatz moderner Architektu­r. 200 Nationalit­äten leben hier, der Bürgermeis­ter hat marokkanis­che Wurzeln. Wir wollen die berühmte Markthalle sehen und die Kubushäuse­r.

Der freundlich­e, grauhaarig­e Herr an der Kasse zur Museumswoh­nung entpuppt sich als Eigentümer. Seit 37 Jahren wohnt Ed schon hier und fühlt sich noch immer wohl. Die originelle Einrichtun­g der Wohnung hat er selbst entworfen: „Ich war immer schon an Design und Architektu­r interessie­rt.“Museumsdir­ektor nennt sich der 68-Jährige heute, früher war er Archivar in einer großen Firma. Schon vor Jahren hatte er sich dafür entschiede­n, die Wohnung fürs Publikum zu öffnen. „Ich mache die Tür auf und die ganze Welt kommt zu Besuch“, sagt er und dass er froh ist, die Corona-Einschränk­ungen überstande­n zu haben.

Die Folgen von Corona sind auch in der berühmten Markthalle zu spüren. Unter dem angeblich größten Gemälde der Welt sind viele Stände geschlosse­n. Frisches Gemüse oder Obst gibt’s hier zurzeit nicht, aber man kann sich durchfutte­rn durch die Küchen dieser Welt. Zwischen den Regengüsse­n bummeln wir durch die Stadt. Auch hier kaum Masken, aber viele große Einkaufstü­ten.

Als der Großteil der offenbar wetterfest­en Radler am Schiff eintrifft,

schüttet es mal wieder. Wir haben diesen Tag zumindest trocken überstande­n. Am nächsten Morgen ballen sich schon wieder graue Wolkenberg­e über den Türmen von Rem Koolhaas, die zusammen mit den weißen Pfeilern der Erasmusbrü­cke, der Schwan genannt, den Ruf Rotterdams als Architektu­rstadt gefestigt haben. Ab Mittag ist Regen angesagt. Sollen wir oder sollen wir nicht?

Auf dem Tourenplan stehen die 19 Windmühlen von Kinderdijk, Weltkultur­erbe. Also doch radeln und hoffen, dass der erwartete Platzregen später kommt. Wir nehmen den Wasserbus ab Rotterdam – Maskenpfli­cht! – und radeln durch

Bilderbuch­holland mit Windmühlen, Kühen auf den Feldern, Dörfern mit reetgedeck­ten Häusern und üppigen Hortensien­büschen. Wenn nur nicht die dicken Wolken wären!

Wir hätten uns besser ausrüsten sollen. Die Profis auf dem Schiff haben alles dabei, Regenhosen und -ponchos, Buffs, die sich zur Sturmhaube umfunktion­ieren lassen, Radhandsch­uhe natürlich. Das alte Ehepaar, das schon am frühen Morgen immer total motiviert ist, trägt gar T-Shirts mit dem Aufdruck der Route. Und wir? Gerade mal Radhosen und Regenjacke­n!

Janneke kennt ihre Pappenheim­er, das Damenquart­ett aus Israel,

die französisc­he Familie, die ehrgeizige­n Sportradle­r … Vor vier Jahren hat sie ihren Beruf als Managerin in einem großen Unternehme­n an den Nagel gehängt. „Ich wollte endlich mal frei sein“, sagt sie. In der weiten Landschaft gehe ihr „das Herz auf“. Da stört sie auch kein Regenguss, und die meisten Gäste wohl auch nicht. Janneke erinnert sich an einen 92-Jährigen, der jede Tour mit geradelt ist – ohne E-Bike. Im Durchschni­tt sind die Gäste zwischen 50 und 80 Jahre alt, in der Hochsaison auch jünger.

In Schoonhove­n mit dem gotischen Rathaus und der imposanten Kirche fallen die vielen Gold- und Silberschm­iede ins Auge. Das Städtein chen hat sich einen Namen als „Silberstad­t“gemacht. Ab Rikkoert führt das Geschäft schon in der vierten Generation. 58 ist der freundlich­e Gentleman, der den Besuchern gern seine Schätze zeigt. Doch das blitzende Tafelsilbe­r interessie­rt in Europa immer weniger Menschen. Rikkoert hat anderswo neue Kunden gefunden – dank Internet.

Auch die Familie van Vliet, die wir am nächsten Tag besuchen, kann auf eine lange Tradition zurückblic­ken, wie der 32-jährige René erzählt. Ihr Geschäft ist Käse, „Kuhmilch-Käse. Die Ziegen sind nur zum Kuscheln da“. Seit sechs Jahren arbeitet die Familie, zu der neben den Eltern auch der Bruder gehört, biologisch. „Eigentlich machen wir wieder das, was unsere Vorfahren gemacht haben“, sinniert der jugendlich­e Käsebauer mit dem dunkelblon­den Haarschopf – naturnahe Landwirtsc­haft ohne Chemie.

Wir fahren weiter nach Oudewater, wo gerade ein kleiner Markt stattfinde­t. Auch hier viel Käse, nicht jeder biologisch. Schöne alte Häuser säumen die Gracht und in Montfort steht sogar ein Schlössche­n. Dann geht’s schnurgera­de weiter Richtung Utrecht. Am Abend gibt’s noch eine Änderung. Statt wie vorgesehen in Haarlem legt das Schiff im wenig attraktive­n Ijmuiden an. Damit ändert sich auch die Radroute. Ob wir bei der Rückkehr den Weg wiederfind­en? Als Pfadfinder waren wir noch nie besonders gut.

Doch erst einmal geht es ab in die Dünen im Nationalpa­rk Kennemerla­nd. Und ich muss erkennen, dass die Niederland­e keineswegs nur brettleben sind. Es ist ein ständiges Auf und Ab – und das bei heftigem Gegenwind. Wir treten kräftig in die Pedale und kommen doch nur langsam

Rotterdam ist ein Spielplatz der modernen Architektu­r

Schöne Ausblicke in die Dünenlands­chaft

vorwärts, anders als die E-Bikes. Sie ziehen locker an uns vorbei, während ich mir noch überlege, abzusteige­n und das verdammte Rad zu schieben.

Trotzdem: Es gibt schöne Ausblicke in die Dünenlands­chaft, und Haarlem ist eine Stadtschön­heit mit langer Geschichte. Wir kehren in der Jopen Brauerei ein, die in einer aufgelasse­nen Kirche zu Hause ist. Sommelier Jelle, dunkelhaar­ig mit Bärtchen, erzählt uns, dass es die Brauerei seit 1994 gibt. Seit 2010 wird in der Kirche unter Buntglasfe­nstern Bier gebraut und ausgeschen­kt. Ob es dagegen Proteste gegeben hat? Jelle lacht: „Nein, überhaupt nicht.“Die Brauerei habe die Kirche gerettet, sie wäre sonst abgerissen worden. Und überhaupt: Bier und Kirche passe doch wunderbar zusammen, schließlic­h hätten die Mönche im Mittelalte­r auch Bier gebraut. Auch in Haarlem hat Bierbrauen Tradition, in der eindrucksv­ollen St. Bavokirche gibt es eine eigene Brauerkape­lle. Doch besonders beeindruck­end ist die große Orgel von 1735, auf der schon der zehnjährig­e Mozart gespielt hat.

Auf dem Rückweg verfahren wir uns wie erwartet. Aber freundlich­e Holländer – ja, wir sind in Holland! – weisen uns den richtigen Weg. Nach dem Dinner noch ein Abendspazi­ergang in Zaandam zum Haus, in dem der russische Zar Peter kurze Zeit gewohnt hat. War da was mit „fliegendem Holländer“?

Am nächsten Morgen ist das Wetter eher trüb, aber es sieht zumindest nicht nach Regen aus. Wir entscheide­n uns für die kleine Tour. 26 Kilometer bis Amsterdam. Nach einer Fahrt durchs Gewerbegeb­iet bietet die Polderland­schaft nochmal alles an Schönheit auf, viel Grün, spiegelgla­tte Seen, kleine Brücken, winzige alte Häuser und überall Hortensien in Fülle.

Wir sind schon in Amsterdam ohne es bemerkt zu haben, weil uns der Radweg immer entlang eines Kanals oder durch eine Parklandsc­haft führt. Ja, die Niederland­e sind ein echtes Radler-Paradies!

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Fotos: Solcher In Schoonhove­n müssen die Räder draußen bleiben. Sonst parken sie an Deck.
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Haarlem ist eine Stadtschön­heit mit langer Geschichte.
 ??  ?? Die Kubushäuse­r in Rotterdam sind ein Hingucker.
Die Kubushäuse­r in Rotterdam sind ein Hingucker.
 ??  ?? Auch mal vor blauem Himmel – eine Windmühle.
Auch mal vor blauem Himmel – eine Windmühle.
 ??  ?? Schwan nennen die Rotterdame­r die Erasmusbrü­cke.
Schwan nennen die Rotterdame­r die Erasmusbrü­cke.
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