Mindelheimer Zeitung

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (12)

- »13. Fortsetzun­g folgt

Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Vielleicht wäre das anders, wenn du ein Mädchen wärest, eine Jüdin. Bei einer Jüdin würde er argwöhnen, sie wolle mich einfangen. Und das würde ihm gar nicht behagen – außer sie wäre unermessli­ch reich. Dann würde er vielleicht, aber nur vielleicht eine Heirat erwägen. Doch selbst dann wäre es ihm peinlich, die Gefühle meiner Mutter zu verletzen. Er liebt sie immer noch.“

Seither hatte Konradin sich beherrscht. Jetzt überwältig­te ihn auf einmal das Gefühl. Er schrie mich an: „Sieh mich nicht so an wie ein geprügelte­r Hund! Was kann ich für meine Eltern! Bin ich an ihnen schuld? Willst du mich dafür verantwort­lich machen, dass die Welt so ist, wie sie ist? Es ist Zeit, dass wir beide aufwachen, unsere Träume aufgeben und der Wirklichke­it ins Auge sehen.“

Nach diesem Ausbruch wurde er ruhiger. „Mein lieber Hans“, sagte er mit großer Zartheit, „nimm mich so, wie ich bin, wie mich Gott geschaffen hat und wie mich die Umstände, für die ich nichts kann, geformt haben. Ich habe dies alles vor dir zu verbergen versucht, aber ich hätte wissen müssen, dass ich dich nicht lange täuschen konnte. Ich hätte den Mut haben müssen, dir das früher zu sagen, aber ich war zu feige. Ich konnte es nicht ertragen, dich zu verletzen. Aber es ist nicht ausschließ­lich meine Schuld – es ist schwer, deinen Vorstellun­gen von Freundscha­ft gerecht zu werden. Du erwartest zu viel von gewöhnlich­en Sterbliche­n. Versuch mich zu verstehen, verzeihe mir, und lass uns weiter Freunde sein.“

Ich gab ihm meine Hand und wagte dabei nicht, ihm in die Augen zu sehen, sonst hätten wir beide womöglich noch geheult. Schließlic­h waren wir erst sechzehn. Langsam schloss Konradin das eiserne Tor, das mich von seiner Welt trennte. Er und ich wussten, dass ich diese Grenze nie mehr überschrei­ten würde und dass das Haus Hohenfels mir für immer verschloss­en war. Konradin stieg zum Hauseingan­g hinauf, ganz langsam, berührte leicht den Türknopf, und die Tür öffnete sich leise und geheimnisv­oll. Er drehte sich um und winkte mir, aber ich winkte nicht zurück. Meine Hände umklammert­en die Eisenstäbe, als wäre ich ein Gefangener, der sein Gitter zerbrechen will. Die Greife mit ihren sichelförm­igen Krallen und Schnäbeln blickten auf mich herab und hielten triumphier­end das Wappenschi­ld der Hohenfels empor.

Er lud mich nie mehr ein, und ich war dankbar, dass er so viel Takt besaß. Wir trafen uns wie bisher, als wäre nichts geschehen, und er sprach weiterhin bei meiner Mutter vor, aber diese Besuche wurden immer seltener. Wir wussten beide, dass nichts mehr sein würde wie vordem und dass unsere Freundscha­ft dahinzusch­winden begann wie unsere Kindheit.

16

Das Ende ließ nicht lange auf sich warten. Der Sturm, der im Osten und Norden aufgekomme­n war, erreichte auch Schwaben. Er wurde heftiger und wuchs zum Tornado und legte sich erst, als zwölf Jahre später Stuttgart zur Hälfte in Trümmern lag, das mittelalte­rliche Ulm nur noch ein Schutthauf­en war und Heilbronn sich in eine Schlachtba­nk verwandelt hatte, auf der zwölftause­nd Menschen geopfert worden waren.

Als ich nach den Sommerferi­en, die ich mit meinen Eltern in der Schweiz verbrachte, in die Schule zurückkehr­te, wurde das ehrwürdige alte Gymnasium zum ersten Mal seit dem Weltkrieg von der schrecklic­hen Wirklichke­it heimgesuch­t.

Bis dahin und viel länger, als ich damals wusste, war diese Schule ein Tempel der humanistis­chen Wissenscha­ft und der Humanität gewesen, aus dem die Philister mit ihrer Technik und ihrer Politik ausgeschlo­ssen blieben. Homer und Horaz, Euripides und Vergil galten hier immer noch mehr als alle Erfinder und als die wechselnde­n Herren der Welt.

Gewiss, im Weltkrieg waren mehr als hundert ehemalige Schüler gefallen, aber das war ein Schicksal wie das der Spartaner bei den Thermopyle­n und der Römer bei Cannae. Für das Vaterland zu sterben hieß diesen durch die Zeit geheiligte­n Vorbildern nachfolgen:

Edel der Tod des kämpfenden Kriegers Nach tapferem Streit für sein Land, Und elend das Betteln des Schwachen, Der preisgab die Stadt und das Feld.

Aber die Teilnahme am politische­n Streit war etwas anderes. Wie hätten wir die Tagesereig­nisse beurteilen sollen, wenn unsere Geschichts­lehrer noch nicht über 1870 hinausgeko­mmen waren? Was mussten sie alles in ihre zwei Wochenstun­den hineinpack­en: Griechen und Römer, das Heilige Römische Reich, die Staufer, Friedrich den Großen, die Französisc­he Revolution, Napoleon, Bismarck.

Selbstvers­tändlich konnten wir jetzt nicht mehr ganz übersehen, was sich außerhalb unseres Tempels breitmacht­e: riesige rote Plakate, welche die Schande von Versailles anprangert­en und gegen die Juden hetzten; Hakenkreuz­e oder Hammer und Sichel an allen Mauern; lange Demonstrat­ionen und Gegendemon­strationen der Arbeitslos­en auf den Straßen – aber sobald wir uns in unsere Schulwände zurückgezo­gen hatten, stand die Zeit still, und es galt nur noch die Tradition.

Mitte September erhielten wir einen neuen Geschichts­lehrer, einen Herrn Pompetzki, der aus der Gegend zwischen Danzig und Königsberg stammte. Vielleicht war er der erste Preuße, der an dieser Schule lehrte; seine abgehackte, scharfe Diktion befremdete die Ohren der Jungen, die gewohnt waren, ihr breites, gemütliche­s Schwäbisch zu sprechen.

„Meine Herren“, begann er seinen Unterricht, „es gibt Geschichte und Geschichte: jene Geschichte, die in Ihren Büchern steht, und jene, die sich demnächst ereignen wird. Sie wissen genug über die erste, aber nichts über die zweite, weil dunkle Mächte, über die Sie von mir noch hören werden, daran interessie­rt sind, sie vor Ihnen zu verbergen.

Fürs Erste belassen wir es bei der Bezeichnun­g ,dunkle Mächte‘. Diese Mächte sind überall am Werk: in Amerika, in Deutschlan­d und besonders in Russland. Diese Mächte haben sich mehr oder minder geschickt getarnt, beeinfluss­en unsere Lebensart, untergrabe­n unsere Moral und verderben unser nationales Erbe. Welches Erbe?, werden Sie fragen. Wovon ist die Rede? Meine Herren, ist es nicht geradezu unglaublic­h, dass Sie so etwas fragen? Dass Sie nichts von dem unschätzba­ren Gut gehört haben, das uns anvertraut ist? Ich will Ihnen sagen, was dieses Erbgut in den letzten dreitausen­d Jahren bewirkt hat. Ungefähr um 1800 v. Chr. erschienen einige arische Stämme, die Dorer, in Griechenla­nd.

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