Der unterkühlte Amerikaner
USTruppenabzug Nüchtern und ohne Mitgefühl bleibt der US-Präsident bei seiner Linie. Über das Chaos in Kabul redet Joe Biden wenig, dafür kritisiert er die frühere Regierung und das Militär Afghanistans. Was er damit erreichen will
Washington Kein Zögern. Keine persönlichen Anekdoten. Kein idealistisches Pathos. Kein Zeichen von Mitgefühl. Stattdessen demonstrative Entschlossenheit: „Ich stehe voll und ganz zu meiner Entscheidung“, sagte der Präsident und formulierte seine Botschaft mit schonungsloser Härte: „Amerikanische Truppen können nicht und sollten nicht den Krieg führen und in einem Krieg sterben, den afghanische Truppen nicht selbst führen wollen.“
Oft hat man Joe Biden als Trostspender gesehen, als sensiblen Menschen, der gelegentlich seine Tränen nicht zurückhalten kann, wenn er von seinem verstorbenen Sohn Beau spricht. Doch als der 78-Jährige am Montag nach Tagen des Schweigens über das Drama in Afghanistan ans Rednerpult des Weißen Hauses trat, zeigte er sich der Nation von einer anderen Seite – als radikal nüchterner Realpolitiker und Oberbefehlshaber, der sich alleine amerikanischen Interessen verpflichtet fühlt.
Nur kurz ging Biden auf die aktuelle Lage im Kabul ein, wo Tausende Menschen auf das Rollfeld des Flughafens gestürmt waren. Der Zusammenbruch des Staats am Hindukusch sei „tatsächlich rascher erfolgt, als wir das vorgesehen haben“, sagte er und sprach von chaotischen Zuständen, um zu relativieren: „Es gibt niemals einen guten Zeitpunkt für einen Truppenabzug.“
Statt über die konkrete Umsetzung der Aktion sprach Biden ausführlich über die Gründe für das Ende des militärischen Engagements. „The buck stops with me“(Die Verantwortung trage ich), betonte er. Schon im Wahlkampf hatte sich der Demokrat für die Beendigung der endlosen Kriege der USA ausgesprochen. Amerika, hatte er damals gesagt, könne „nicht jedes einzelne interne Problem lösen, das es in der Welt gibt“.
Insofern bleibt sich der Mann, der schon als junger Senator 1975 für den sofortigen Abzug der US-Truppen aus Vietnam plädierte, durchaus treu, wenn er nun das Ziel des Afghanistan-Einsatzes auf die Terrorismusbekämpfung beschränkt und erklärt, es könne nicht um den Aufbau einer demokratischen Nation gehen. Die direkte Bedrohung für die USA sei beendet und mehr nicht zu erreichen, urteilt er: „Es würde nichts ändern, wenn die US-Truppen ein, fünf oder zehn Jahre länger im Land blieben.“
Die nüchterne Entschlossenheit in der Grundsatzentscheidung, einen 20-jährigen Kampfeinsatz mit 2400 amerikanischen Todesopfern zu beenden, kontrastiert freilich scharf mit der desaströsen Durchführung. „Unter keinen Umständen werden Sie sehen, dass Menschen vom Dach der US-Botschaft in Afghanistan ausgeflogen werden“, hatte Biden noch Anfang Juli erklärt. Obwohl im April der Abzug aller Soldaten bis Ende August angekündigt wurde, sind erst wenige Übersetzer und andere zivile Helfer außer Landes gebracht worden. Man werde wohl noch ein halbes Jahr Zeit haben, glaubte die US-Regierung den Prognosen ihrer Geheimdienste. Mehr als 18.000 VisaAnträge einstiger Zivilbeschäftigter stecken teilweise seit Jahren im Behördenstau.
Die Verantwortung dafür gab Biden ohne Umschweife den Afghanen, deren politische Anführer sich aus dem Staub gemacht hätten und deren Militär weitgehend kampflos zusammengebrochen sei. Diesen Kollaps wertete der Präsident als endgültigen Beleg für die Richtigkeit seiner Entscheidung: „Wie viele Generationen von Amerikas Töchtern und Söhnen sollen wir noch in Afghanistans Bürgerkrieg schicken, wenn nicht einmal die afghanischen Truppen kämpfen?“
Das ist das wohl wichtigste Argument, mit dem Biden in der Öffentlichkeit punkten will. Ob ihm das gelingt, ist unklar. Von linksliberalen Medien wie der New York Times oder CNN wird der Präsident so scharf wie nie kritisiert. „Das ist Bidens selbstverschuldete Niederlage – und der geistige Sieg von Trumps ,America First‘“, wetterte Kolumnist Michael Gerson in der Washington Post. Derweil prangern die Republikaner den dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust der USA bei ihren Verbündeten an und sprechen von „Bidens Desaster“. Doch das letzte Wort ist nicht gesprochen. Grundsätzlich unterstützt eine klare Mehrheit der Bevölkerung den Truppenabzug. Auf diese Wähler setzt Biden.
Die Taliban beteuerten indes, weitere politische Kräfte an der Macht beteiligen zu wollen. Das sagte der langjährige Sprecher der Islamisten, Sabiullah Mudschahid, bei seiner ersten öffentlichen Pressekonferenz in Kabul am Dienstag. „Wenn die Regierung gebildet ist, dann wird jeder einen Teil daran haben.“Die Islamisten mühten sich, auch andere düstere Befürchtungen zu zerstreuen, und die Menschen im Land in Sicherheit zu wiegen. Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, reagierte betont zurückhaltend auf die Äußerungen. Er sagte allerdings, die Taliban hätten zugesagt, Zivilisten unbehelligt zum Flughafen zu lassen, damit sie das Land verlassen könnten.