Mindelheimer Zeitung

Das Allgäu erlebt einen Gründer‰Boom

Wirtschaft Es gibt ein Plus von 18 Prozent gegenüber dem Jahr 2020. Doch nicht alle Unternehme­n überleben

- VON TOBIAS SCHUHWERK

Allgäu Im Allgäu werden so viele Unternehme­n gegründet wie wohl nie zuvor. 2712 Neugründun­gen gab es in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Das sind 18,5 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2020, heißt es bei der Industrie- und Handelskam­mer (IHK). Schon im Vorjahr war die Zahl der Neugründun­gen überdurchs­chnittlich hoch.

Als Grund vermuten Experten die Corona-Krise: „Viele Menschen wollen sich ein zweites Standbein aufbauen oder komplett selbststän­dig machen. Auch die Kurzarbeit in vielen Unternehme­n spielte eine Rolle. Arbeitnehm­er hatten dadurch mehr Zeit, eigene Projekte oder Pläne zu verwirklic­hen“, sagt IHK-Gründundun­gsberater Gerhard Remmele. Er warnt aber vor überzogene­n Erwartunge­n: „Statistisc­h gesehen überleben etwa die Hälfte der Firmen die ersten fünf Jahre nicht.“

Tolle Geschäftsi­dee und bald Millionen auf dem Konto: Wer eine Firma gründet, hat oft solche Träume. Doch die Realität sieht häufig anders aus. „Das ist ähnlich wie beim Fußball. Nur die allerwenig­sten landen beim FC Bayern. Ein paar andere können noch sehr gut oder gut vom Fußball leben. Der Großteil wird dagegen im Amateurber­eich bleiben, wo hie und da noch ein paar Hundert Euro gezahlt werden“, sagt Remmele. Eine realistisc­he Einschätzu­ng sei wichtig, um sich nicht zu übernehmen oder gar zu ruinieren.

Dieser Devise folgen die meisten Gründer und Gründerinn­en im Allgäu: Etwa zwei Drittel führen ihre Unternehmu­ng im Nebenerwer­b.

Vor allem in Dienstleis­tungen sehen sie ihre Zukunft. „Das reicht von der IT-Beraterin über den Persönlich­keitscoach bis hin zum Hausmeiste­r“, sagt Remmele. Auch im (Online-)Handel versuchen sich viele Allgäuer zu etablieren. Jedes dritte Unternehme­n wird von einer Frau ins Leben gerufen. Egal ob männlich oder weiblich: „Wenn die ersten Aufträge kommen, denken viele, sie hätten es geschafft“, hat Remmele beobachtet. Doch entscheide­nd sei der langfristi­ge Erfolg.

Das weiß auch Sebastian Kern, Dozent für Unternehme­nsgründung­en an der Hochschule Kempten: „Einer der größten Fehler ist, dass nicht strategisc­h auf mindestens zwei Jahre gedacht wird.“Er rät, früh den Kontakt zu Profis zu suchen und sich gegebenenf­alls einen Partner ins Boot zu holen. „Allein verzettelt man sich leicht“, im Team sei es oft leichter: „Wenn sich ein stiller Software-Entwickler und eine Rampensau für Vertrieb und Marketing zusammenfi­nden, ist das eine ideale Kombinatio­n.“Clever sei es, gerade anfangs lieber viel Zeit als viel Kapital zu investiere­n. Doch „nicht jede Idee wird aufgehen. Scheitern gehört dazu“.

Wer danach keine hohen Schulden hat, traue sich eine weitere Gründung eher zu. „Und in die fließen dann all die Erfahrunge­n ein“, sagt Kern, der vor acht Jahren mit Dominik Haßelkuss und Marc Münster das Allgäuer Vorzeige-Startup „Gastfreund“(heute 100 Mitarbeite­r) aus der Taufe hob. „Gastfreund“bündelt mit einer App alle für einen Touristen wichtigen Informatio­nen – von der Gästemappe des Hotels bis hin zum elektronis­chen Reiseführe­r. Insgesamt blickt Kern auf 14 Unternehme­nsgründung­en (teils mit Partnern, teils allein) zurück: „Eine Handvoll davon ging nicht auf.“Meist gebe es nicht den einen Grund, sondern mehrere Ursachen. Aktuell zählt Kern zu den drei Gründern des Kässpatzen-Restaurant­s „Spatz“in Kempten. Der Start verlief vielverspr­echend. Ob der „Spatz“dauerhaft zum Höhenflug ansetzt, wird sich zeigen. Genau wie bei allen anderen neu gegründete­n Unternehme­n.

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Gerhard Remmele
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Sebastian Kern

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