Mindelheimer Zeitung

„Wir sehen immer jüngere Corona‰Patienten“

Interview Der Chef des Divi-Intensivre­gisters, Christian Karagianni­dis, erklärt, warum den Kliniken ab Oktober eine neue Belastungs­probe auf den Intensivst­ationen droht und was die vierte Corona-Welle besonders gefährlich macht

- Interview: Michael Pohl

Herr Professor Karagianni­dis, wie beurteilen Sie aktuell die Corona-Situation auf deutschen Intensivst­ationen? Christian Karagianni­dis: Die Gesamtzahl der Patienten ist noch nicht so hoch. Am vergangene­n Sonntag stieg sie über tausend, im Laufe der Woche kamen über zweihunder­t hinzu. Momentan ist das für die Intensivst­ationen verkraftba­r, da wir jahreszeit­lich bedingt etwas weniger andere Erkrankung­en haben. Wir sind noch weg von den Spitzenbel­astungen vergangene­r Corona-Wellen. Was uns aber Sorgen macht, ist, dass der Trend steil nach oben geht und die Kliniken uns gleichzeit­ig weniger betreibbar­e Intensivbe­tten zur Beatmung melden. Denn, egal mit welcher Klinik man spricht, das Personal ist nach drei Corona-Wellen müde und ausgepower­t. Viele Pflegekräf­te reduzieren ihre Arbeitszei­t, weil die Arbeitsbel­astung extrem hoch ist. Dafür haben wir volles Verständni­s, aber das kostet uns viel an Intensivka­pazitäten.

Hat sich seit Ausbruch der Delta-Variante das Bild der Corona-Patienten verändert?

Karagianni­dis: Der Altersdurc­hschnitt unserer Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen ist deutlich jünger geworden. Weit mehr als die Hälfte der Patienten ist unter 60 Jahre alt, fast ein Drittel ist jünger als 50. An meiner Klinik sehen wir anders als früher viele Patienten im Alter zwischen 20 und 40 auf der Intensivst­ation. Und wir hören von fast allen Kliniken, dass jetzt Patienten kommen, die keine oder kaum nennenswer­te Vorerkrank­ungen hatten. Deshalb erleben wir mit der Delta-Variante tatsächlic­h eine neue Phase der Pandemie auf den Intensivst­ationen.

Erfassen Sie mit Ihrem Intensivre­gister auch die Zahlen für Kinder? Karagianni­dis: Ja, das machen wir. Stand Mitte der Woche hatten wir drei Kinder auf Intensivst­ationen, von denen zwei invasiv beatmet wurden. Etwa ein Prozent der Intensivpa­tienten ist jünger als 18 Jahre. Das sind ein Dutzend Fälle – also insgesamt sehr wenig.

Die Delta-Variante gilt als deutlich ansteckend­er und auch gefährlich­er für Erwachsene. Macht das einen Teil des Fortschrit­ts, den die Impfungen bescheren, wieder zunichte? Karagianni­dis: Die Delta-Variante führt nach heutigen Erkenntnis­sen dazu, dass die Nicht-Geimpften deutlich schneller im Krankenhau­s landen als bei früheren Wellen. Bei Geimpften macht die Virusvaria­nte dabei keinen Unterschie­d: Geimpfte sind beim Risiko, ins Krankenhau­s zu müssen, genauso gut geschützt wie bei früheren Varianten. Wenn wir durchgeimp­ft sind, kommen wir auch gut durch eine Delta-Welle.

Die Intensivpa­tientenzah­len steigen dennoch bundesweit stark an, besonders in Ländern wie Nordrhein-Westfalen, wo die Sommerferi­en vorbei sind. Stolpern wir ein bisschen blauäugig in die vierte Corona-Welle? Karagianni­dis: Der Anstieg der Intensivpa­tientenzah­len kommt für uns nicht überrasche­nd. Die Belegung der Intensivst­ationen mit Covid-Patienten ist weiter klar an die gekoppelt. Mit steigender Sieben-Tage-Inzidenz steigen auch die Intensivfä­lle. Der Unterschie­d zur letzten Herbst-Welle ist, dass damals die Inzidenzza­hlen um den Faktor zwei bis drei niedriger waren. Das heißt, wir haben derzeit erst bei einer Inzidenz von 150 ungefähr so viele Intensivpa­tienten, wie wir sie vergangene­s Jahr schon bei einer Inzidenz von 50 bis 75 hatten. Doch wenn man die Kurve der Intensivfä­lle betrachtet, sind Tempo und Dynamik des Anstiegs fast identisch wie bei der zweiten Welle im vergangene­n Herbst. Deshalb sind wir als Intensivme­diziner nicht glücklich über die Diskussion, dass die Inzidenzza­hlen künftig keine entscheide­nde Rolle bei den CoronaMaßn­ahmen mehr spielen sollen.

Sollte man also doch wieder auf die Inzidenz schauen und sie mit einem Faktor hochrechne­n?

Karagianni­dis: Dafür sprechen eigentlich mehrere Gründe. Die Intensivbe­ttenbelegu­ng folgt nach wie vor der Zahl der Neuinfekti­onen. Die Inzidenzen sind ein Frühwarnwe­rt, weil sie der Entwicklun­g an den Kliniken zeitlich vorauslauf­en. Und wir sehen, in welchen Altersgrup­pen und Teilen der Bevölkerun­g das Infektions­geschehen hoch ist, etwa bei den Ungeimpfte­n. Doch die Inzidenzen haben leider einen schlechten Ruf bekommen. Eine Möglichkei­t für die Zukunft wäre, die Inzidenzen für über und unter 35-Jährige getrennt auszuweise­n. Bei den Älteren ist die Verbin

zwischen Inzidenzen und Intensivbe­legung nach wie vor eng.

Viele Länder lockern mit der sogenannte­n 3G-Regel für Geimpfte, Genesene und Getestete die Corona-Einschränk­ungen stark. Ist das zum Start in die kalte Jahreszeit riskant? Karagianni­dis: Man kann es auch aus Sicht der Intensivme­dizin rechtferti­gen, dass man den Geimpften viel mehr Freiheiten gibt. Die Geimpften landen so gut wie nicht auf der Intensivst­ation. Bei den wenigen Prozent handelt es sich in der Regel um Menschen mit geschwächt­em Immunsyste­m und entspreche­nden Vorerkrank­ungen. Problemati­sch wird es beim dritten G, den Getesteten. Die Schnelltes­ts sind zu ungenau und unentdeckt­e Infektione­n wirken sich bei der Delta-Variante noch viel riskanter aus als in der Vergangenh­eit. Jeder unentdeckt­e Infizierte kann in seinem Umfeld noch viel mehr Menschen anstecken. Deshalb sollte man entweder bei 3G auf PCR-Tests setzen, was jedoch schwierig umsetzbar ist, oder bei Lockerunge­n über eine 2G-Regelung diskutiere­n.

Trauen Sie den Verspreche­n der Politiker, dass es mit den neuen CoronaAmpe­l-Lösungen auf keinen Fall einen neuen Lockdown mehr geben wird? Karagianni­dis: Ich finde die neuen Corona-Ampel-Regeln im Prinzip richtig und sinnvoll. Aber die Politik muss jetzt auch klar sagen, was passiert, wenn die Ampel auf Rot schaltet. Denn eine Corona-Welle hat eiInzidenz­zahlen nen langen Bremsweg. Wir können Grenzwerte nur dann festlegen, wenn wir eine Vorstellun­g davon haben, was die Bremse sein soll und wie lange der Bremsweg ist, bis die Maßnahmen wirken. Das ist kein sexy Thema für einen Wahlkampf, aber diese Frage ist entscheide­nd für den Umgang mit der Pandemie im Herbst. Die Politik muss von vornherein deutlich machen, was sie tun will, wenn die Zahlen nach oben gehen. Denn ein Lockdown ist ein unangenehm­es Instrument, aber er wirkt dafür relativ einfach, um die Zahlen nach unten zu bringen. Die Frage ist, ob das mit 3G oder 2G auch geht. Diese Antwort muss die Politik liefern.

Wäre 2G gleich der bessere Weg, um es gar nicht so weit kommen zu lassen? Karagianni­dis: Es ist gut, dass Hamburg dies ausprobier­t und wir dann Daten bekommen, was es bewirkt. Tatsächlic­h wäre es sinnvoll, eher früher als zu spät auf 2G zu setzen, damit wir nicht mit einem riesigen Rucksack an Infektione­n in den Oktober und November marschiere­n.

Sie haben bei den vergangene­n Wellen erschrecke­nd genaue Prognosen über die Belegung der Intensivst­ationen geliefert. Geht das auch mit Blick auf die Impfungen und die Delta-Variante? Karagianni­dis: Im Moment können wir echte Prognosen für den Herbst nicht abgeben, weil die Entwicklun­g sehr stark vom Steigen der Impfquote abhängt. Wir sollten noch ein paar Wochen warten, wie sich das Impfdung verhalten der Menschen entwickelt. Sollte sich die Impfquote kaum noch ändern, könnten wir die Entwicklun­g der Intensivza­hlen relativ genau vorausbere­chnen. Aber dafür ist es jetzt noch zu früh.

Welchen Trend erwarten Sie für die kommenden Monate? Karagianni­dis: Die Zahlen werden steigen, aber wir rechnen damit, dass wir die Situation im September im Griff haben. Bauchschme­rzen bereitet uns die Zeit ab Oktober, November – wenn sich das Leben stark in die Innenräume verlagert und wieder die Heizungen angehen. Wir sehen schon jetzt, wie stark sich die Delta-Variante in geschlosse­nen Räumen ausbreitet. Wenn wir bis Oktober nicht die Impfquote deutlich nach oben bringen, bekommen wir im Herbst einen richtig starken Anstieg der Corona-Fälle auf den Intensivst­ationen.

Was machen denn zehn Prozent mehr oder weniger Impfquote aus? Solche Unterschie­de gibt es ja auch unter den Bundesländ­ern …

Karagianni­dis: Der Unterschie­d einer zehn Prozent höheren oder niedrigere­n Impfquote ist bei der Auswirkung auf die Intensivst­ationen enorm. Das ist eine sehr einfache Rechnung: Bei einer Impfquote von 80 Prozent gibt es doppelt so viele Gefährdete wie bei einer Impfquote von 90 Prozent, denn dann gäbe es nur zehn Prozent Ungeimpfte statt 20 Prozent. Bei einer Impfquote von 70 Prozent ist die Zahl dreimal so hoch. Es gibt in der Altersgrup­pe von 18 bis 59 Jahren über 40 Millionen Menschen. Und da macht der Unterschie­d, ob sich vier Millionen mit dem Virus infizieren können oder acht Millionen, sehr viel aus. Deshalb hilft uns an den Intensivst­ationen eine zehn Prozent höhere Impfquote unheimlich viel. Wir sind sehr skeptisch, ob man mit der Delta-Variante eine Herdenimmu­nität erreichen kann, die auch die Ungeimpfte­n mitschütze­n würde. Das heißt am Ende, man ist entweder geimpft oder man macht früher oder später die Infektion durch.

Wie hoch ist das Risiko, dass wir diesen Herbst ähnlich hohe Patientenz­ahlen erreichen wie vergangene­s Jahr? Karagianni­dis: Das hängt sehr stark davon ab, mit welch hohem Tempo die Welle anwächst. Das liegt aber auch am Verhalten der Bevölkerun­g. Wir haben schon in den letzten Wellen gesehen, dass die Menschen sehr stark ihr Verhalten anpassen, wenn die Zahlen hochgehen. Bei hohen Inzidenzen werden viele Menschen in Quarantäne kommen, was insgesamt zu größerer Vorsicht führen könnte. Dieser Faktor ist entscheide­nd, ob es noch mal so einen hohen Anstieg der Infektione­n gibt. Aber das können wir heute noch nicht abschätzen.

Christian Karagianni­dis ist Präsi‰ dent der Deutschen Gesellscha­ft für Internisti­sche Intensiv‰ und Notfallmed­izin. Er leitet das Ecmo‰Beat‰ mungszentr­um der Lungenklin­ik Köln und das Divi‰Intensivre­gister.

 ?? Foto: Marijan Murat, dpa ?? Corona‰Patient wird im künstliche­n Koma auf Intensivst­ation beatmet.
Foto: Marijan Murat, dpa Corona‰Patient wird im künstliche­n Koma auf Intensivst­ation beatmet.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany