Wie geht es Shalomah?
Ermittlungen Hinter dem Verschwinden der Elfjährigen steckt wohl die umstrittene Sekte „Zwölf Stämme“. Zumindest gibt es Mails, laut derer das Mädchen bei seinen leiblichen Eltern ist. Doch ging das Kind freiwillig mit?
Eppisburg Es ist herbstlich trüb und still an diesem Montagmorgen in Eppisburg (Kreis Dillingen). Ein starker Kontrast zu dem, was nach dem Verschwinden der elfjährigen Shalomah Hennigfeld am Wochenende los war. Etwa 100 Feuerwehrleute und Eltern haben am Sonntag nach dem Mädchen gesucht. Sie war am Samstagnachmittag nicht mehr vom Joggen heimgekehrt. Die Anspannung ist groß, denn einige befürchten, dass Shalomah einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein könnte.
Am Montag kommt dann eine Art von Erleichterung auf. Es gibt Hinweise, dass die Elfjährige wohlauf ist und sich bei ihren leiblichen Eltern befindet. Das Problem ist: Dort dürfte sie eigentlich nicht sein. Die Eltern gehören der umstrittenen Sekte „Zwölf Stämme“an, deren Mitgliedern nach Prügelvorwürfen vor rund acht Jahren das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen worden ist. Was ist also geschehen?
Von außen ist es am Haus, in dem das Mädchen acht Jahre gelebt hat, zunächst ruhig. Im Inneren klingelt aber ständig das Telefon. Pflegevater Günter Strobel nimmt längst nicht mehr bei allen Anrufen an. „Seit 7.30 Uhr morgens geht das so“, sagt der 58-Jährige. Reporter und Reporterinnen überregionaler Medien rücken nach und nach an, um über den spektakulären Fall zu berichten.
Er habe noch gar keine Zeit zum Nachdenken gehabt, sagt Strobel. „In erster Linie bin ich erleichtert, dass Shalomah keinem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“Davon sei er aber auch nicht ausgegangen, erläutert der Pflegevater. Strobel hat eine E-Mail der Sekte bekommen. „Wir wissen jetzt, dass sie bei den Eltern ist“, sagt Strobel. „Wir hoffen, dass es Shalomah dort gut geht.“
Als ehemaliger Polizist versuche er, die Situation nüchtern zu analysieren. Seine Frau habe das Ganze viel mehr mitgenommen. Und noch etwas fügt Strobel nachdenklich hinzu: „Ich hoffe, dass es Shalomahs eigene Entscheidung war, mit ihren leiblichen Eltern mitzugehen.“Die Elfjährige sei vermutlich hin- und hergerissen gewesen – zwischen ihren leiblichen Eltern und ihren Pfle
geeltern. „Sie hat sich bei uns wohlgefühlt und uns lieben gelernt. Sie liebt aber auch ihre leiblichen Eltern“, glaubt Strobel.
Der Pflegevater beschreibt in einfühlsamen Worten das seelische Dilemma des Mädchens. Bei der Polizei sieht man den Fall naturgemäß nüchterner. „Falls sich die bisherigen Hinweise verdichten, handelt es sich hier zumindest um eine Entziehung Minderjähriger“, sagt Pressesprecher Markus Trieb vom Polizeipräsidium Schwaben-Nord. Darauf stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Das oberste Ziel der Ermittlerinnen und
Ermittler am Montag ist es, herauszufinden, wo Shalomah sich tatsächlich aufhält und ob sie wohlauf ist. Doch bis Montagabend gibt es dazu keine sicheren Erkenntnisse, nur Spekulationen.
Die „Zwölf Stämme“leben nach einigem Ärger mit den Behörden in Schwaben inzwischen in zwei Gemeinschaften in Tschechien, eine nahe Prag, eine in Skalna nahe der deutschen Grenze. Haben die leiblichen Eltern Shalomah dorthin gebracht? Die tschechische Polizei teilt am Montagnachmittag mit, dass sie das Kind bei einer Überprüfung
nicht gefunden hat. Ist das Mädchen freiwillig mitgegangen oder wurde es gezwungen? Diese Fragen versucht die deutsche Polizei zu klären. Laut Pflegevater Strobel hatte das Mädchen alle sechs Wochen in Räumen des Kinderschutzbundes in Dillingen begleiteten Kontakt zu seinen leiblichen Eltern. Die Elfjährige ging in eine fünfte Klasse an der Aschbergschule in Holzheim. „Die anderen Kinder sind zutiefst betroffen“, sagt Rektor Stephan Wolk. Die Lehrkräfte hätten mit den Mitschülern und Mitschülerinnen über Shalomas Verschwinden gesprochen.
In der Vergangenheit hatten die „Zwölf Stämme“immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Um die Jahrtausendwende hatten sie sich auf dem Gut Klosterzimmern nahe Deiningen im Landkreis Donau-Ries angesiedelt. Ein Ehepaar aus der Glaubensgemeinschaft hatte das 18 Hektar große Gelände des ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosters für 1,8 Millionen Mark vom Fürstenhaus Oettingen-Wallerstein gekauft. Scheinbar idyllisch lebten die gut 100 Mitglieder dort in der schwäbischen Provinz.
Doch bald gab es Ärger. Die Sekte weigerte sich, ihre Kinder auf staatliche Schulen zu schicken. Sie ignorierte alle Aufforderungen, Bußgelder und Gerichtsurteile, bis die Behörden Zwangsmaßnahmen einleiteten: Zunächst brachte die Polizei die Kinder zur Schule. Später gingen sieben Väter sogar für mehrere Tage in Erzwingungshaft. Die Stimmung in der Bevölkerung kippte. War man anfangs noch sehr kritisch gegenüber der urchristlichen Sekte, hieß es nun, diese Maßnahmen dienten nicht dem Wohl der Kinder. Das Kultusministerium knickte ein und genehmigte im Jahr 2006 eine sogenannte private Ergänzungsschule – bis dahin ein einmaliger Sonderfall, der eigentlich der Schulpflicht widerspricht. Die „Zwölf Stämme“durften ihre Kinder zu Hause unterrichten mit eigenen Lehrkräften, eigenem Lehrplan, eigenen Lehrmaterialien.
2013 traten schockierende Details aus dem Sektenleben zutage. Unsere Redaktion hatte Kontakt mit zwei Aussteigern, die Einzelheiten verrieten. So gehörten Schläge zum Alltag in der Erziehung der Sektenmitglieder. Nach einer Razzia im Jahr 2013 wurde den Eltern von rund 40 minderjährigen Kindern das Sorgerecht entzogen. Nach etlichen Prozessen beim Familiengericht durften manche Kinder wieder zurück zu ihren leiblichen Eltern. Andere blieben bei Pflegeeltern. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied 2018, dass er keine Menschenrechtsverletzungen sieht. Die Sekte ist weiter aktiv. Unter dem Druck der deutschen Behörden zogen die Mitglieder von Klosterzimmern nach Skalna in Tschechien. Dort ist das Züchtigen von Kindern nicht grundsätzlich verboten.