Kiew und die Sehnsucht nach dem Alltag
Putins Soldaten sind abgezogen und die Hauptstadt erwacht zu neuem Leben. Doch die Angst, die schlaflosen Nächte und die Einsamkeit haben Spuren hinterlassen – auch wenn kaum noch jemand Notiz von den Sirenen nimmt.
Jogger drehen an einem Sonntagmorgen ihre Runden auf dem Maidanplatz in Kiew. Sie weichen Barrieren und den Sandsäcken vor dem Eingang zur Metro aus, als gehöre der Slalom zum Trainingsparcours. Es ist einiges los für einen Sonntag in einer Stadt im Krieg. Junge Leute sitzen an einer Bushaltestelle und gähnen, als hätten sie gerade einen Club verlassen. Dabei herrscht Ausgangssperre in Kiew nach 23 Uhr. Sirenen schrillen plötzlich über den Platz. Ihr Ton geht unter die Haut. Doch niemand erhebt sich von der Bushaltestelle. Die Jogger halten ihre Geschwindigkeit, als würde der Alarm sie nicht stören. Nur ein paar Tauben fliegen davon.
Die Kiewer scheinen nach bald drei Monaten Krieg ihren Umgang mit den russischen Raketen gefunden zu haben. Manche sagen, er bestünde darin, sich nicht mehr im Alltag von Alarmsignalen stören zu lassen und blind auf die Luftabwehr zu vertrauen. Die Behörden veröffentlichen in den sozialen Medien immer drastischere Mahnungen, den Sirenenton ernst zu nehmen und doch bitte einen Schutzraum aufzusuchen. Bars, Cafés und Straßen leeren sich aber nicht. Sobald der Sirenenton erklingt, gelte es, genau hinzuhören, erklärt eine Kiewerin in einem Café. „Hörst du einen Knall, dann hat unsere Luftabwehr die Rakete in der Luft erwischt und alles ist in Ordnung. Ist dagegen ein leises Zischen in der Luft, befindet sich die Rakete im Anflug, dann gehst du am besten ins Badezimmer oder einen Gang, wo es keine Fenster gibt.“Sei außer dem Geheule der Sirenen gar nichts zu hören, führe die Flugbahn das Geschoss weg von der Stadt.
Eine russische Rakete traf Ende April während des Besuches von UN-Generalsekretär António Guterres zum letzten Mal ein Ziel in der Hauptstadt. Für die Kiewer scheint das schon eine halbe Ewigkeit her zu sein. Einige Kilometer vom Maidan entfernt, im Bezirk Obolon im Norden, schläft die 13-jährige Nastia Ratuschny noch am späten Vormittag auf der Pritsche in einem Luftschutzbunker. Ihr Vater Valentin will keine Fragen beantworten, um seine Tochter nicht zu stören, meint er. Die Freiwillige Nadiya Govorun vermutet, dass der Vater vor allem nicht über seine eigenen Ängste reden möchte.
Sie nennt die Familie „Langzeitbewohner“. „Sie kommen jede Nacht, obwohl es viel ruhiger geworden sei. Der Vater behauptet, es sei bloß wegen der Tochter, die zu Hause nicht schlafen könne“, sagt Govorun. Nicht alle Menschen in Kiew ignorieren also die Gefahr aus der Luft. Manchen sitze die Panik der Bombennächte noch so in den Knochen, dass sie sich in regelrechte Höhlenbewohner verwandelt hätten, erzählt Govorun. Jene, die von der Bedrohung nichts mehr wissen wollten, stellten allerdings die Mehrheit. „Einige reden schon davon, wie es damals im Krieg war. Sie meinen die Zeit bis Ende März, als die Russen vor Kiew standen.“
Govorun unterrichtet an einer Hochschule Englisch. Sie gibt Onlinekurse und betreut seit Beginn des Krieges am 24. Februar den Luftschutzbunker unter einer Bücherei. Bis zu 100 Menschen aus dem über der Bücherei liegenden Plattenbau und umliegenden Gebäuden hätten zwischen Regalen voller angestaubter Literatur sowie in den Gängen auf Matratzen Platz gefunden. „Man glaubt es nicht, wie viele Menschen, die noch nie ein Buch in der Hand hatten, hier angefangen haben, zu lesen“, erzählt die Freiwillige. Sie führt durch ihr leicht nach Moder riechendes Reich.
Die Pädagogin stellt einen Bezug her zwischen den Panikattacken der Schutzsuchenden in den Bombennächten im Februar und März und der Sehnsucht nach einer Imitation normalen Lebens im Mai. Sie habe in vielen Nächten entscheiden müssen, auf wen sie beruhigend einredete und wen sie auch mal mit scharfen Worten verwies, sich zusammenzunehmen. Es sei psychologisch nachvollziehbar, die erschöpfte Seele nun aufatmen zu lassen durch Ablenkung. „Wir dürfen dabei aber nicht vergessen: Wir sind immer noch mitten im Krieg.“
Das Aufatmen dokumentiert sich eindrucksvoll an vielen Orten in der Stadt. Eine Eisverkäuferin wirbt für selbst gemachtes Eis am Stiel mit Salz-Karamell-Kruste. Gäste halten vor einer Bar auf der gegenüberliegenden Seite am späten Nachmittag an Stehtischen ihre Negroni-Gläser in der Hand. Junge Paare sitzen auf Bänken und halten sich mit Zärtlichkeiten nicht zurück. Sommer liegt auch im Szeneviertel Podil mit seinen Kneipen, Künstlerateliers und Wänden voller Graffiti in der
Manche schlafen noch immer im Bunker
Luft. Mitte März eröffneten zunächst die Friseursalons in der Stadt. Es folgten die übrigen Geschäfte und Cafés, Restaurants und Bars. Die Supermärkte bieten ein kaum beschränktes Sortiment. Frische Ware liegt in Regalen und das in der Ukraine produzierte Sonnenblumenöl ist anders als in Deutschland kein Mangelprodukt. Die Preise sind für viele Produkte zwar gestiegen. Doch das Einfrieren des Wechselkurses der Landeswährung Hrywna zum Dollar nach Kriegsbeginn hat eine galoppierende Inflation bisher verhindert.
Viele Kiewer haben im Krieg ein neues Hobby entdeckt: Angler reiht sich an Angler am Ufer des Dnipro. Das könnte damit zusammenhängen, dass frischer Seefisch aufgrund der russischen Besetzung weiter Teile der ukrainischen Küste in Kiew inzwischen schwer zu bekommen ist. Angeln ist außerdem eine die Nerven beruhigende Geduldsprobe. Doch all die zur Schau gestellte Leichtigkeit ändert nichts daran, dass viele Angler, NegroniTrinker oder Jugendliche in Kiew gerade zu den einsamsten Menschen in Europa gehören dürften.
Der Rechtsanwalt Dmytro Nazarets erzählt seine Geschichte in seinem Büro. Seine Frau und seine Tochter sind zu einem Bekannten in den Schweizer Kanton Bern geflohen. Nazarets kehrte nach der Flucht in den Westen der Ukraine in den ersten Kriegstagen wieder nach Kiew zurück. „Ich bin zurückgekommen, um mich bei der Armee zu melden. Es hat sich falsch angefühlt, einfach die Stadt zu verlassen“, meint er.
Nazarets verbringt seine Tage nun damit, oft vergeblich neue Aufträge als Anwalt zu akquirieren – und nicht wahnsinnig zu werden über die Trennung von seiner Familie. So dankbar er sei, dass die Schweiz seine Familie aufnehme, so schwer falle es in der Ukraine verbliebenen Vätern wie ihm, sich auf eine Trennung für unbestimmte Zeit einzustellen. „Manche glauben ja, ein Kind gehört zur Mutter und Väter kommen schon irgendwie zurecht. Aber ich bin nicht so ein Vater, der in der Erziehung alles den Müttern überlasst. Meine Frau sagt immer, unsere Tochter sei ein Vaterkind“, sagt er. Nazarets versucht, die Zeit ohne seine Familie totzuschlagen, wie andere vielleicht einen Aufenthalt im Gefängnis.
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko erklärte am 10. März, dass die Hälfte der circa 2,8 Millionen Einwohner aus der Hauptstadt geflohen seien. Genau zwei Monate später sprach er davon, dass zwei Drittel der Einwohner wieder zurück in der Stadt seien. Auffallend im Straßenbild ist jedoch das Fehlen der Kinder. Es sind also in erster Linie Väter ohne ihre Familien und junge Erwachsene ohne Kinder, die Kiew am Laufen halten – und den Eindruck eines normalen Großstadtlebens vermitteln.