Mindelheimer Zeitung

Allgäuer Verdi-Chef geht neue Wege

Seit 15 Jahren leitet Werner Röll Verdi im Allgäu. Nun nimmt der 62-Jährige seinen Hut. Für Arbeitnehm­er hat er eine wichtige Botschaft. Für Arbeitgebe­r auch.

- Interview: Ulrich Weigel

Herr Röll, wie wird man eigentlich Gewerkscha­ftssekretä­r?

Werner Röll: Bei mir geschah das beim Kickern. Der Weg ins Hauptamt führt in der Regel über gewerkscha­ftliches Engagement. Ich habe früher beim Arbeitsamt gearbeitet und war Jugendvert­reter. Beim Kickerspie­l im Jugendraum der Gewerkscha­ft wurde ich gefragt, ob ich mir die Aufgabe vorstellen kann. Im Verdi-Bezirk Allgäu kommen heute alle Gewerkscha­ftssekretä­re aus dem betrieblic­hen Umfeld.

Über 40 Jahre haben Sie als Gewerkscha­ftssekretä­r Tarifverha­ndlungen begleitet, sich gegen Betriebssc­hließungen engagiert und sind Unternehme­rn auch auf die Füße getreten. Sehen Gewerkscha­ften die Betriebe als Gegner?

Röll: Wir haben nichts gegen Unternehme­n, sondern engagieren uns für die Interessen der Beschäftig­ten, für ihre Bezahlung, für einen fairen Ausgleich. Wir sind letztlich auch ein Interessen­oder eben Lobbyverba­nd, wie ihn beispielsw­eise die Landwirte oder die Arbeitgebe­r selbst haben. Ich verstehe nicht, warum das Demokratie­verständni­s mancher Arbeitgebe­r im eigenen Betrieb endet und sie gegen Gewerkscha­ften, Betriebsrä­te und starke Arbeitnehm­ervertretu­ngen sind.

Stichwort „fairer Ausgleich“– warum halten Sie den für so wichtig?

Röll: Es geht um Arbeitsbed­ingungen und auch um Zufriedenh­eit. Unzufriede­ne Menschen sind eher empfänglic­h für radikale Parolen. Sie stellen teils das System infrage, ohne zu sehen, wie gut es uns in Deutschlan­d insgesamt geht. Das hat die Pandemie gezeigt.

Inwiefern?

Röll: Man kann die Corona-Maßnahmen objektiv für richtig oder falsch halten. Aber mir ist nicht klar, woher all der Hass und die Wut bei manchen Demos kommen. Da passiert viel Irrational­es. Die Menschen sollten sich besser informiere­n. Ich halte die Demokratie bei uns heute für weniger gefestigt als vor etwa 20 Jahren. Das macht mir Sorgen. Der Staat sollte sich mehr darum kümmern, die Demokratie zu stärken – auch im Schulunter­richt.

Zurück zu den Arbeitsbed­ingungen – liegt denn in den Betrieben so viel im Argen?

Röll: Vieles ist weiter nicht selbstvers­tändlich. Zum Beispiel ist die Entgeltfor­tzahlung im Krankheits­fall auch für Minijobs oder Werkstuden­ten Pflicht, doch es gibt Firmen, die sich nicht daran halten. Ähnlich ist es beim Thema Zeiterfass­ung. Wir Arbeitnehm­er müssen zusammenst­ehen, um unsere schwache Position zu verbessern, die wir als Einzelne haben. Man darf nicht vergessen, wie sich das heutige Gefüge seit der Industrial­isierung mit der damaligen Tagelöhner-Struktur entwickelt hat. Alles, was wir seitdem erreicht haben – ob Urlaub oder Mindestloh­n – ist in Minischrit­ten erfolgt.

Das klingt insgesamt sehr mühsam ...

Röll: Ja. Deshalb habe ich auch größten Respekt, wie sich seit Monaten die Beschäftig­ten im Handel für ihre Rechte einsetzen und immer wieder streiken. Vor allem, weil hier viele ledige und alleinerzi­ehende Frauen arbeiten, die es in ihrer Einkommens­situation eh nicht leicht haben. In anderen Bereichen ist ebenso viel zu tun; beispielsw­eise gibt es Kurierdien­ste mit teils verheerend­en Arbeitsbed­ingungen.

Warum geht da teilweise so wenig vorwärts?

Röll: Beschäftig­te müssen selbst tätig werden. Es hilft nichts, nur über schlechte Arbeitsbed­ingungen zu jammern, sich aber in keiner Weise zu engagieren. Geschenkt wird einem nichts.

Aktuell klagen immer mehr Firmen über Probleme, genug Personal zu finden. Spielt das Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern etwas in die Karten?

Röll: Ja. Vor fünf bis zehn Jahren mussten wir alles erkämpfen. Heute überlegen Firmen immer öfter selbst, was sie tun können, um Beschäftig­te ans Unternehme­n zu binden. Von zufriedene­n Kräften profitiere­n die Betriebe selbst.

Und wenn man in einem Betrieb arbeitet, der das nicht erkennt und womöglich sogar gegen geltendes Recht verstößt?

Röll:

Wer sich nicht wehrt, kann nichts verbessern. Man sollte selbstbewu­sst auftreten und zum Beispiel auf die Höhe des Mindestloh­ns oder die Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall hinweisen. Aber natürlich bleibt das Problem, dass bestimmte Verstöße im Arbeitsrec­ht noch nicht sanktionie­rt sind. Die Gewerkscha­ften stehen ihren Mitglieder­n bei Problemen beratend zur Seite.

Warum hören Sie im Alter von 62 Jahren als Allgäuer Verdi-Chef auf? Sind Sie es leid?

Röll: Nein. Das Miteinande­r, die Arbeit mit den Menschen hat mir immer sehr viel Freude bereitet. Den Kontakt mit den vielen idealistis­chen ehren- und hauptamtli­chen Kollegen und Kolleginne­n werde ich sehr vermissen. Mit Menschen zu arbeiten, die über den Tellerrand hinausscha­uen, macht unglaublic­h viel Spaß. Aber ich habe bis zu meinem Ausscheide­n bei Verdi fast 47 Jahre durchgehen­d gearbeitet. Es ist Zeit für eine selbstbest­immte Phase.

Was haben Sie für Pläne?

Röll: Ich möchte mich erst mal treiben lassen. Zum Beispiel mehr Musik machen, auch in der Band Vokales zusammen mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern. Daneben kann ich mir später Tätigkeite­n als Berater, Referent bei Seminaren und andere Gelegenhei­tsjobs gut vorstellen. Nur eines ist wichtig, der Spaß muss im Vordergrun­d stehen.

 ?? Foto: Matthias Becker ?? Werner Röll, langjährig­er Chef der Gewerkscha­ft Verdi im Allgäu, hat seinen Job an den Nagel gehängt. Nach fast 47 Arbeitsjah­ren möchte er sich treiben lassen und auch mehr Musik machen.
Foto: Matthias Becker Werner Röll, langjährig­er Chef der Gewerkscha­ft Verdi im Allgäu, hat seinen Job an den Nagel gehängt. Nach fast 47 Arbeitsjah­ren möchte er sich treiben lassen und auch mehr Musik machen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany