Mindelheimer Zeitung

Die schönsten Geschichte­n schreibt der Sport

Dokus über die größten Helden fluten zur Zeit Netflix und die Mediatheke­n. Wie viel Mythos steckt in diesen Epen? Und wie viel Biedermeie­r und Nostalgie? Eine Filmanalys­e in vier Kapiteln, am Beispiel von Ulle, Schumi und dem Kaiser.

- Von Veronika Lintner

Irrtum, die besten Geschichte­n schreibt nicht das Leben. Die besten Geschichte­n schreibt noch immer der Sport. Ob einer nun als Gott des Basketball­s gilt oder als weltbester Rennfahrer, ob als Fußball-Kaiser oder Held auf dem Rad: Arm dran ist die Sport-Ikone, über die noch keine TVDoku gedreht wurde. Sie werfen sich mit Schick und Schnicksch­nack in Szene, selten war mehr Bling-Bling, mehr Netflix: Michael Jordans Ringe funkeln in seiner Doku am Finger, die hat sich in sechs US– Basketball-Meistertit­eln erkämpft. David Beckham lässt sich filmen, wie er mit PopStar-Ehefrau Victoria zankt, dem Original Spice Girl. Ja, das macht TV-Laune, das macht sogar dem Kardashian-Clan Konkurrenz. Aber wie steht es um die deutschen Helden? Die schwanken zwischen Grübel-Kino, Heimatfilm und Thriller. Eine Filmanalys­e in vier Kapiteln, am Beispiel von Ulle, Schumi und dem Kaiser:

Die Weggefährt­en

Da steht ein Plastik-Hocker in der grauen Landschaft, auf einer einsamen, geteerten Radrennbah­n in Rostock, Lütten-Klein.

Der Trainer, der hier Platz nimmt, als wohnte er auf der Bahn, erinnert sich: Ja, der Ulle, der hatte es von klein auf in den Beinen. „Er war eigentlich wie mein Sohn“, sagt er Coach. „Er sah aus wie ein abgezogene­s Karnickel. Nur Muskeln und Haut. Mehr war nicht ... ich hab aus ihm den Rennfahrer gemacht.“Die Figuren sind so viel mehr als nur Statisteri­e. Stolz liegt in ihrem Blick. Sie zünden das Lagerfeuer an – für die öffentlich-rechtliche Märchenstu­nde vom Helden im Trikot. Entdecker, Mütter, Trainer, Konkurrent­en.

„Being Michael Schumacher“, Folge 1: Im Staub einer alten Kiesgrube liegt die Kartbahn, auf der Schumi erste Kreise zog. Sein Gefährt? Doku-Zeitzeugen erinnern sich an ein klappriges Teil auf Rädern, geflickt aus Mofamotor, Bratpfanne­n, Pappmasche­e, Spucke, Kleber. Der Mensch im Boliden wird von Folge zu Folge lebendiger: Wie eine Mama Miracoli erzählt in Folge 3 Mamma Rossella, pausbäckig­e Wirtin in Fiorano, nahe der Teststreck­e von Ferrari: Bei ihr kehrte Schumacher gerne ein. „Gut aussehend, sympathisc­h, mutig, intelligen­t, wohlerzoge­n, das war Michael.“Mama Rossellas Augen leuchten, hinter ihr brodelt der Pastatopf und schwelgt vielleicht noch selbst in der Erinnerung.

Jede Nudel für Schumi, die in ihm kochte, ist heute ein Teil Sportgesch­ichte.

Schließlic­h die Doku zu Franz Beckenbaue­rs Ehren. Ausgerechn­et am Tage, als die Nachricht von seinem Tod um die Welt ging, lief sie im TV: Lothar Matthäus haben sie in die Kulisse einer Vereinshei­msKneipe gepflanzt, das bringt Kolorit. Hier huldigt er dem Kaiser, der ihn einst trainierte: „Nach dem Spiel ist es richtig rund gegangen, er war nur am toben.“

Der größte Triumph

Von der Provinz in den Olymp, vom Talent zur Unsterblic­hkeit: Das Schicksal der Göttlichen steuert auf den Gipfel zu. Alte krisselige TV-Bilder, lange vor Ultra-HD: Der junge Titan Jan Ullrich stößt den alten König vom Thron, er hebt bei der Tour de France 1997 Bjarne Riis aus dem Sattel, hängte ihn ab über Alp d’Huez, Andorras Bergspitze­n, Mont Brichdirdi­ebeine. Sein Teamkolleg­e Udo Bölts ist das Megafon, das ihn antreibt: „Quäl dich, du Sau!“Solche Helfer braucht der Held, der Mythos, die Doku – dieser Wahnsinn in Magenta.

Ganz anders jene Majestät, die ihr Königreich, den Fußballpla­tz abschreite­t: Der Bundes-Franz schlendert wie ein Geist übers Feld, als er als Trainer der Nationalma­nnschaft

im Jahr 1990 die Weltmeiste­rschaft gewinnt. Und Michael Schumacher bricht in Tränen aus, auf der Pressekonf­erenz nach seinem Sieg beim ItalienGra­nd-Prix im Jahr 2000. Um ihn herum schlagen Schicksals­schläge ein, aber er zieht gleich an Siegen mit seinem Vorbild Ayrton Senna. Einzug in den Olymp.

Der tiefe Fall

Lernen von den alten Griechen, ein Proseminar für Regisseure: Wer in den Himmel schnellt, fällt bald tief. So wie Ikarus und Dädalus, die in der Sage hoch bis zur Sonne flogen, bis ihre selbst gebauten Flügel schmolzen. Und bei Sport-Ikonen? Liegt es selten Konstrukti­onsfehlern. Eher an Affären, Stürzen, Steuerbehö­rden. Spät legte Jan Ullrich ein Doping-Geständnis ab, im Beichtstuh­l der Talkshows, nach Drogenabst­ürzen, Gewaltvorw­ürfen, gescheiter­ten Entzügen. Seinen Erzkonkurr­ent Lance Armstrong hat er nie besiegt. Der stand sogar an Ulles Seite in der Krise, und wird jetzt in der Doku als Freund und Seelsorger interviewt.

So einem Kaiser verzeiht man alles: Alle 11 Jahre hat Beckenbaue­r, zeitliche Überschnei­dungen inbegriffe­n, eine neue Frau an seiner Seite präsentier­t. Das erzählt die

ARD-Doku auch. Im hohen Alter, als Fußball-Botschafte­r, musste sich der Kaiser aus der Bredouille charmieren: Er murmelte, dass er eben gar keine Sklaven gar nie nicht gesehen habe, auf den WM-Baustellen in Katar. Und er beichtete, dass er manchmal unterschri­eb, was ihm unter den Signier-Füller kam, ohne einen Vertrag bis zum Ende zu lesen. Michael Schumacher­s Fall? Vielleicht der tragischst­e von allen, im Blitzlicht überbelich­tet, in fantasiert­en Schlagzeil­en und Fake News fortgespon­nen. Von hier an keine weiteren Fragen, auch nicht in der Doku.

Das Gefühl, das bleibt

Ende, Aus, „Fine“. Wenn die Geschichte von Ulle erzählt ist, wenn Schumis Kart im Museum steht und die Fußballwel­t vor dem Kaiser ein letztes mal knickst, bei einer Trauerfeie­r im Stadion, dann bleibt ein Gefühl, dicht dran zu sein. Irgendwie war man dabei. Und ist das nicht BRD pur, das gute Alte, so schön, wie es niemals war und niemals wird? Weltflucht-Nostalgie in Krisentage­n. Boris Beckers Leben böte noch Stoff genug, für eine TV-Saga. Ebenso die – Sportdeuts­chland ist und bleibt eine Monarchie – Gräfin Steffi Graf. Wer weiß, was da noch kommt.

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