Mindelheimer Zeitung

China-Kracher oder Rohrkrepie­rer?

Mit dem ET5 Touring hat Nio schon einen Elektro-Kombi auf der Straße – noch vor BMW und VW.

- Von Rudolf Bögel

Kombis sind ein europäisch­es Phänomen. Nirgendwo anders auf der Welt erfreuen sich verlängert­e Limousinen einer solchen Beliebthei­t. Ob Avant oder Variant, ob Touring oder Tourer, ob T-Modell, Turnier oder Station Wagon – fast jeder Hersteller hat oder hatte einen Kombi im Angebot. Drei der prominente­sten Vertreter kommen aus Deutschlan­d und bringen heuer ihren E-Caravan auf den Markt: Audi Avant E-Tron, VW ID.7 Tourer und BMW i5 Touring. Doch es ist wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. Im Ziel wartet schon der vermeintli­ch Schwächere. In diesem Fall ein weiterer chinesisch­er Hersteller. Nach MG (MG5 Electric) hat auch Nio die Deutschen überholt und bringt seinen ET5 schon jetzt als Kombilimou­sine. Ein Mittelklas­se-Auto mit Klasse?

Erster Eindruck: Der ET5 Touring macht eine gute Figur. Das Heck ist knackig, stramm die Kotflügel. Dazu passt die schmale Scheibe mit dem überhängen­den Spoiler und das um die ganze Fahrzeugbr­eite laufende Lichtband. Vorne sieht der Nio wie ein Nio aus: unverwechs­elbar, weil hier die Sensoren und Kameras nicht aufwendig hinter Blenden versteckt, sondern auf der oberen Dachlinie der Frontschei­be ganz „nackt“platziert werden. „Watchtower“nennen das die Chinesen ein wenig martialisc­h, auf gut Deutsch Wachturm.

Wie sind die Platzverhä­ltnisse? Auch da sieht es zunächst einmal gut aus, weil bei umgeklappt­er Rückbank (dreiteilig) tatsächlic­h eine ebene Fläche entsteht, was das Verladen erleichter­t. Auch die Kofferraum­lippe ist fast plan. So geräumig der ET5 Touring auch wirkt, wenn es um die nackten Zahlen geht, fällt er hinter die Konkurrenz zurück. Der China-Caravan bietet 450 bis 1300 Liter Volumen. Da kann schon die neue ID.7-Limousine mit 532 bis 1586 Liter mehr, der BMW i5 Touring geht mit 550 bis zu 1700 Liter ins Rennen. Und auch beim A5 Avant E-Tron geht man von einem ähnlichen Wert aus. Dafür aber haben sich die Techniker ein paar schöne Gimmicks einfallen lassen. So kann der variable Boden als Laderaumte­iler fixiert werden, es gibt ausklappba­re Haken, um etwas aufzuhänge­n. Sogar in der Heckklappe. Dumm nur, dass der Nio keine Entriegelu­ng hat, mit der man vom Kofferraum aus die Rückbank umlegen kann.

Negativ aufgefalle­n sind uns noch ein paar andere Dinge: Die Heckscheib­e ist so klein, dass man nach hinten kaum etwas sieht. Die Kopfstütze­n auf der Rücksitzba­nk stören ebenfalls die Sicht. Und die Sprachassi­stentin Nomi nervt. Sie thront in einem kugelförmi­gen Display mitten auf dem Armaturenb­rett und schnabelt gerne mal dazwischen. Aber man kann Nomi auch ausschalte­n. Was aber umständlic­h ist. Das gilt auch für die neue pflichtgem­äße Akustik-Warnung, wenn der Fahrer das Tempo um einen Kilometer überschrei­tet. Man kann sie abschalten – aber nur, wenn man sich durch die Untermenüs auf dem großen Infotainme­ntDisplay plagt. Auf dem Bildschirm stellt man übrigens auch die Seitenspie­gel ein. Noch so eine (umständlic­he) Besonderhe­it von Nio.

Der Antrieb hingegen ist ein echtes Pfund. Wie bei der Limousine schieben zwei Elektromot­oren den Kombi an. Mit Allrad, 489 PS und einem Drehmoment von 700 Newtonmete­rn (Nm) startet der ET5 Touring in jeder Lebenslage schon fast dramatisch durch. Vier Sekunden von 0 auf 100 – da muss sich der BMW i5 M60 xDrive mit seinen 601 PS schon richtig anstrengen (3,8 s). Das Fahrwerk des Nio ist ordentlich, reicht aber nicht an die weiß-blaue Konkurrenz heran. So wie die Lenkung, die beim BMW besonders gelungen ist und beim Touring nicht anders sein wird. Aufgefalle­n ist uns, dass der ET5 Touring laut ist. Auf der Autobahn dringen die Reifengerä­usche ziemlich ungehinder­t in den Innenraum. Hier wurde an der Dämmung gespart.

Apropos Sparen: Erwerben kann man den ET5 Touring schon ab 47.500 Euro. Dazu kommen aber noch die 75 oder 100 kWh starken Akkus. Sie kann man kaufen (für 12.000 Euro die kleinere Version, die größere kostet schon 21.000 Euro) oder mieten: Kostet 169 respektive 289 Euro monatlich. Zum Vergleich: Der BMW i5 ruft als Limousine rund 70.000 Euro auf, den ID.7 mit weitaus weniger Leistung und kleinem Akku (286 PS, 77 kWh) gibt es für knapp 57.000 Euro.

 ?? Fotos: Nio ?? Flotter Feger aus China: Der Nio ET5 Touring wird von zwei Elektromot­oren auf Vorder- und Hinterachs­e angetriebe­n und schafft Tempo 100 in vier Sekunden.
Fotos: Nio Flotter Feger aus China: Der Nio ET5 Touring wird von zwei Elektromot­oren auf Vorder- und Hinterachs­e angetriebe­n und schafft Tempo 100 in vier Sekunden.
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Groß wie ein Serviertab­lett ist das Display beim Nio. Auf dem Bildschirm sieht man die Kamera-Aufnahmen rund um das Auto.
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Ein (Luft-)Tritt unter das Heck genügt und schon öffnet sich der Kofferraum des Nio ET5 Touring von selbst. Hilfreich, wenn man gerade alle Hände vollhat.

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