China-Kracher oder Rohrkrepierer?
Mit dem ET5 Touring hat Nio schon einen Elektro-Kombi auf der Straße – noch vor BMW und VW.
Kombis sind ein europäisches Phänomen. Nirgendwo anders auf der Welt erfreuen sich verlängerte Limousinen einer solchen Beliebtheit. Ob Avant oder Variant, ob Touring oder Tourer, ob T-Modell, Turnier oder Station Wagon – fast jeder Hersteller hat oder hatte einen Kombi im Angebot. Drei der prominentesten Vertreter kommen aus Deutschland und bringen heuer ihren E-Caravan auf den Markt: Audi Avant E-Tron, VW ID.7 Tourer und BMW i5 Touring. Doch es ist wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. Im Ziel wartet schon der vermeintlich Schwächere. In diesem Fall ein weiterer chinesischer Hersteller. Nach MG (MG5 Electric) hat auch Nio die Deutschen überholt und bringt seinen ET5 schon jetzt als Kombilimousine. Ein Mittelklasse-Auto mit Klasse?
Erster Eindruck: Der ET5 Touring macht eine gute Figur. Das Heck ist knackig, stramm die Kotflügel. Dazu passt die schmale Scheibe mit dem überhängenden Spoiler und das um die ganze Fahrzeugbreite laufende Lichtband. Vorne sieht der Nio wie ein Nio aus: unverwechselbar, weil hier die Sensoren und Kameras nicht aufwendig hinter Blenden versteckt, sondern auf der oberen Dachlinie der Frontscheibe ganz „nackt“platziert werden. „Watchtower“nennen das die Chinesen ein wenig martialisch, auf gut Deutsch Wachturm.
Wie sind die Platzverhältnisse? Auch da sieht es zunächst einmal gut aus, weil bei umgeklappter Rückbank (dreiteilig) tatsächlich eine ebene Fläche entsteht, was das Verladen erleichtert. Auch die Kofferraumlippe ist fast plan. So geräumig der ET5 Touring auch wirkt, wenn es um die nackten Zahlen geht, fällt er hinter die Konkurrenz zurück. Der China-Caravan bietet 450 bis 1300 Liter Volumen. Da kann schon die neue ID.7-Limousine mit 532 bis 1586 Liter mehr, der BMW i5 Touring geht mit 550 bis zu 1700 Liter ins Rennen. Und auch beim A5 Avant E-Tron geht man von einem ähnlichen Wert aus. Dafür aber haben sich die Techniker ein paar schöne Gimmicks einfallen lassen. So kann der variable Boden als Laderaumteiler fixiert werden, es gibt ausklappbare Haken, um etwas aufzuhängen. Sogar in der Heckklappe. Dumm nur, dass der Nio keine Entriegelung hat, mit der man vom Kofferraum aus die Rückbank umlegen kann.
Negativ aufgefallen sind uns noch ein paar andere Dinge: Die Heckscheibe ist so klein, dass man nach hinten kaum etwas sieht. Die Kopfstützen auf der Rücksitzbank stören ebenfalls die Sicht. Und die Sprachassistentin Nomi nervt. Sie thront in einem kugelförmigen Display mitten auf dem Armaturenbrett und schnabelt gerne mal dazwischen. Aber man kann Nomi auch ausschalten. Was aber umständlich ist. Das gilt auch für die neue pflichtgemäße Akustik-Warnung, wenn der Fahrer das Tempo um einen Kilometer überschreitet. Man kann sie abschalten – aber nur, wenn man sich durch die Untermenüs auf dem großen InfotainmentDisplay plagt. Auf dem Bildschirm stellt man übrigens auch die Seitenspiegel ein. Noch so eine (umständliche) Besonderheit von Nio.
Der Antrieb hingegen ist ein echtes Pfund. Wie bei der Limousine schieben zwei Elektromotoren den Kombi an. Mit Allrad, 489 PS und einem Drehmoment von 700 Newtonmetern (Nm) startet der ET5 Touring in jeder Lebenslage schon fast dramatisch durch. Vier Sekunden von 0 auf 100 – da muss sich der BMW i5 M60 xDrive mit seinen 601 PS schon richtig anstrengen (3,8 s). Das Fahrwerk des Nio ist ordentlich, reicht aber nicht an die weiß-blaue Konkurrenz heran. So wie die Lenkung, die beim BMW besonders gelungen ist und beim Touring nicht anders sein wird. Aufgefallen ist uns, dass der ET5 Touring laut ist. Auf der Autobahn dringen die Reifengeräusche ziemlich ungehindert in den Innenraum. Hier wurde an der Dämmung gespart.
Apropos Sparen: Erwerben kann man den ET5 Touring schon ab 47.500 Euro. Dazu kommen aber noch die 75 oder 100 kWh starken Akkus. Sie kann man kaufen (für 12.000 Euro die kleinere Version, die größere kostet schon 21.000 Euro) oder mieten: Kostet 169 respektive 289 Euro monatlich. Zum Vergleich: Der BMW i5 ruft als Limousine rund 70.000 Euro auf, den ID.7 mit weitaus weniger Leistung und kleinem Akku (286 PS, 77 kWh) gibt es für knapp 57.000 Euro.