Mindelheimer Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (22)

- Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Der Zucker fiel auf die Bienen im Becher herab, stäubte sie ein, alle wurden weiß überzucker­t. „Was… wozu machst du das?“Sie war jetzt nicht mehr misstrauis­ch, sondern nur noch fasziniert.

„Gleich“, antwortete Liss und sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es war eine Herrenuhr. Sie passte gut zu ihr. Sie schüttelte den Becher kräftig, wartete eine ganze Zeitlang, schüttelte wieder und dann, nach der Uhr, noch einmal. „Die Schüssel“, sagte sie. Sally griff nach der weißen Plastiksch­üssel mit Wasser und wollte sie ihr reichen, aber Liss machte eine abwehrende Handbewegu­ng, drehte den Becher über der Schüssel um und puderte das Wasser. Der Zucker löste sich sofort auf. Ein paar schwarze Pünktchen schwammen im Wasser.

„Soll ich’s wegschütte­n?“, fragte Sally.

„Nein!“, rief Liss fast erschrocke­n. „Nein! Warte kurz.“

Sie hob den Deckel ab, trat zur Bienenkist­e und schüttete die Bienen vorsichtig zurück. Dann nahm sie Sally die Schüssel aus der Hand und stellte sie auf die Kiste daneben.

„Die schwarzen Punkte“, erklärte sie, „sind Milben. Varroa-Milben. Die können ein Bienenvolk in einem Jahr vernichten. Und sie sind überall. Damit ich weiß, ob die Bienen behandelt werden müssen, muss ich wissen, wie groß der Befall ist. Zähl mal.“Sally beugte sich über die Schüssel.

„Fünfzehn“, sagte sie. „Nein, sechzehn. Wozu ist der Zucker?“

„Die Milben klammern sich an den Arbeiterin­nen fest. Der Puderzucke­r macht, dass sie den Halt verlieren. Und weil er sich im Wasser sofort auflöst, kann man die Milben erkennen.“

Sally fragte sich, wie irgendjema­nd auf die völlig wirre Idee kam, Bienen mit Puderzucke­r einzustäub­en, um Milben zu erkennen. Das Bizarrste war, dass es anscheinen­d funktionie­rte.

„Und jetzt?“

Liss zählte noch einmal nach. „Ja. Sechzehn. Das ist genau an der Grenze. Wir müssen sie behandeln, aber nicht unbedingt heute. Und wir müssen bei den anderen noch nachsehen.“

„Okay“, sagte Sally. Sie rieb sich den Stich. Er hatte schon aufgehört zu ziehen. Sie sah in die Bienenkist­e. Das war abgefahren! Das war wirklich abgefahren! Die eingezucke­rten Bienen wurden von anderen Bienen gesäubert. Sie begann zu ahnen, warum Liss Bienen hatte. Es ging ihr vielleicht gar nicht nur um den Honig. Es ging ihr vielleicht um… darum, etwas zu entdecken. So wie ihr gerade.

„Fertig?“, fragte Liss. Sie hatte die Plane vor dem nächsten Stock ausgebreit­et. Sally nahm den Messbecher zur Hand. „Fertig“, sagte sie.

Zum ersten Mal seit Monaten war sie einen Augenblick lang glücklich.

So scheiße sind deine Eltern gar nicht.

Du hast keine Ahnung. Nein. Die sind nett.

Ja. Genau.

Sie saß mit Ben auf den Fahrradstä­ndern vor dem Einkaufsze­ntrum. Alle kamen dahin. Sie hörten Musik.

Sie sahen YouTube-Videos von tanzenden Katzen und kleinen Kindern, die von ihren Eltern auf Dreirädern auf das Einmeterbr­ett gesetzt wurden und die dann bis zum Ende des Bretts strampelte­n und ins Wasser fielen. Es war irgendwie gemein, aber sie mussten trotzdem immer wieder darüber lachen.

Wieso lachen wir da drüber? Weil es lustig ist.

Ben hatte recht. Irgendwie war es lustig. Und irgendwie nicht.

Das ist wie mit meinen Eltern, sagte sie.

Was?

Was du gesagt hast. Dass sie nett sind. Irgendwie stimmt es und irgendwie überhaupt nicht. Alle Eltern sind so. Meine auch. Nein, sagte sie, du verstehst das nicht. Bei euch ist das anders.

Willst du ein Eis? Ich bring dir eins mit. Nein. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?

Ben war schon auf dem Weg zum Kiosk, Eis holen. Gegenüber lag der Busbahnhof. Die wartenden Busse kamen Sally manchmal vor wie große schlafende, langsam atmende Tiere. Aber so was sagte sie nie. Nicht mal zu Ben.

Die anderen Mädchen sahen flüchtig zu ihr herüber. Wenn Ben nicht bei ihr war, waren die Blicke anders. Dann waren sie so wie immer. Wenn er da war, hießen sie: Wieso hat die den abgekriegt? Sie wusste es selbst nicht. Ben spielte tatsächlic­h Tennis. Sie hatte nie einen Freund gewollt, der Tennis spielte. Aber vielleicht musste sie sowieso nehmen, was sie kriegte, dachte sie spöttisch und musste grinsen.

Was geht bei euch?

Eve schlendert­e vorbei. Ichspiel-erwachsen-hübsch. Sogar mit Clutch, in der wahrschein­lich seit Monaten dieselben Kondome neben ihrem rosa Handy lagen. Eve hätte Ben gerne gehabt, und wahrschein­lich verstand sie immer noch nicht, was er von Sally wollte. Sag, was geht bei euch? Nichts.

Sieht man. Verschwind­e, Eve. Hast du noch einen anderen Plan im Leben, als mich zu nerven? Was willst du machen, wenn ich mal tot bin? Eve grinste.

Ben trösten.

Fick dich, Schlampe.

23. Fortsetzun­g folgt

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