Roman von Ewald Arenz
Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgängerinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrscht reagiert.
© 2019 DuMont Buchverlag, Köln
Es flimmerte ihr vor den Augen.
„Ich habe einen Scheißpolizisten auf dem Hof gehabt! Gerade eben. Du wirst gesucht, und du sagst einfach: Ich hab’s vergessen.“
Sie ahmte Sallys Ton in beißendem, tief ätzendem Hohn nach und wartete darauf, dass Sally sie anschrie; sie zitterte vor Kampfbereitschaft und Wut, war bereit zuzuschlagen, bevor sie verletzt wurde; war bereit, alles zwischen ihnen zu zerschlagen.
Sally sah sie an. Sah sie lange an, und dann setzte sie sich einfach vor ihr auf den Boden.
„Hast du mich entführt? Hältst du mich im Keller gefangen? Hast du mich umgebracht? Du hast mir Essen gegeben. Du hast mir ein Zimmer gegeben. Das Einzige, was du nicht getan hast, ist zu fragen, woher ich komme. Glaubst du, dafür kommst du ins Gefängnis?“
Sally sprach bestimmt und laut, aber nicht aggressiv. Ihre Worte drangen wie zeitverzögert durch den roten Nebel, in dem Liss stand. Trotzdem, ihre Worte und die Tatsache, dass Sally vor ihr auf dem Boden saß und zu ihr hochsah, während sie sprach, begannen, den Nebel aufzulösen. So, wie die Sonne an einem kalten Herbstmorgen, sehr langsam, nach und nach.
Liss holte tief Luft. Sie suchte nach Worten. So war es ihr immer schon gegangen. Immer hatten ihr die Worte gefehlt. Immer kamen sie erst viel später. Aber diesmal erlaubte ihr die eigene Sprachlosigkeit, Sallys Worte zu verstehen. Ja. Sie hatte kein Verbrechen be