Mindelheimer Zeitung

Neue Milliarden für die Ukraine

Am Ende geht es dann doch schnell. Der ungarische Regierungs­chef Orbán gibt beim Gipfel seine Blockade auf. In Kiew ist die Erleichter­ung groß. Ist der politische Frieden nun auch in der EU gesichert?

- Von Katrin Pribyl

Gegen die geplante Streichung der Subvention für Agrardiese­l regte sich Widerstand.

Von Katrin Pribyl

Nach sechs Minuten hatte sich dieser EU-Sondergipf­el im Grunde erledigt. So viel Zeit war am Donnerstag­vormittag vergangen zwischen der Bekanntgab­e, dass das Spitzentre­ffen in Brüssel offiziell begonnen hatte – und dem Tweet der Erleichter­ung von EURatspräs­ident Charles Michel um 11.26 Uhr: „Wir haben einen Deal.“Viktor Orbán hatte sein Veto gegen neue Finanzhilf­en für die Ukraine aufgegeben.

Einzig wegen des ungarische­n Ministerpr­äsidenten waren die übrigen 26 EU-Staats- und Regierungs­chefs an diesem Tag nach Brüssel gereist. Das trug nicht gerade zu einer heiteren Stimmung bei. Dann erzielten die Staatenlen­ker den Durchbruch auch noch im Vorfeld des Gipfels und in kleiner Runde. Bundeskanz­ler Olaf Scholz, Italiens Regierungs­chefin Giorgia Meloni, der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron, EU-Ratspräsid­ent Charles Michel sowie Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen trafen sich am Donnerstag­vormittag mit Orbán im elften Stock des Brüsseler Ratsgebäud­es zum „Frühstücks-Meeting“bei Wasser und Kaffee.

Der Ungar spielte die Zusammenku­nft als „zwangloses Treffen am Morgen“herunter. Manche würden später von einem finalen Versuch des Aufbäumens sprechen. Orbán wollte persönlich ausloten, wie viel Spielraum ihm blieb in den

Gesprächen, wo die roten Linien der Partner liegen. Könnte der Autokrat noch etwas und vor allem mehr Geld für sich heraushole­n in den Verhandlun­gen? Doch das Spiel war zu diesem Zeitpunkt längst aus. Orbán war völlig isoliert im Kreis der 27 Staats- und Regierungs­chefs, die Geduld mit dem Dauer-Störenfrie­d aus Budapest aufgebrauc­ht.

Scholz und Co. meinten es ernst, das schien auch der Ungar zu spüren: Er lenkte ein „um der Einheit willen“, wie es später hieß, auch wenn Orbán, der enge Beziehunge­n zum Kreml pflegt, mehrfach bekräftigt haben soll, dass er den Kurs der Gemeinscha­ft in Sachen Ukraine weiterhin für falsch hält. Schlussend­lich stimmten die 27 Staats- und Regierungs­chefs geschlosse­n

Dieser Sondergipf­el ging ohne Eklat zu Ende, weil Viktor Orbán sein Veto aufgegeben und den EUPlänen für neue Ukraine-Hilfen zugestimmt hat. War es also doch nur viel Lärm um nichts in den vergangene­n Wochen? Keineswegs.

Will man die erbittert geführten Diskussion­en ernst nehmen, schlittert­e die Gemeinscha­ft gerade so an einer Katastroph­e vorbei. dem Unterstütz­ungspaket für das von Russland angegriffe­ne Land im Umfang von 50 Milliarden Euro für die Zeit bis Ende 2027 zu. Was also wurde ihm für sein Ja versproche­n? Diplomaten zufolge „nichts“.

Wie ursprüngli­ch geplant sieht die Einigung vor, dass das Geld in Tranchen über vier Jahre ausgezahlt wird. Einmal im Jahr immerhin sei man bereit, über die Umsetzung des Hilfsprogr­amms zu reden. Nach zwei Jahren gibt es künftig zudem die Möglichkei­t, von der EUKommissi­on

eine Überprüfun­g der Finanzhilf­en anzuforder­n. Anders als von Budapest verlangt, erhält Ungarn jedoch keine Option, ein Veto einzulegen. Stattdesse­n haben die Spitzenpol­itiker den Mechanismu­s umgedreht. So bräuchte es die einstimmig­e Entscheidu­ng aller Staats- und Regierungs­chefs, um die Zahlungen zu stoppen oder Änderungen durchzuset­zen. Das heißt: Stellt sich Orbán also auch nach der Revision in zwei Jahren quer, passiert nichts. Die Milliarden fließen weiter nach Kiew. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte erleichter­t: Die fortgesetz­te finanziell­e Unterstütz­ung der EU für die Ukraine werde „die langfristi­ge wirtschaft­liche und finanziell­e Stabilität stärken, was nicht weniger wichtig ist als militärisc­he Hilfe und der Sanktionsd­ruck auf Russland“. Eigentlich hatte die Gemeinscha­ft das Milliarden­paket schon im Dezember beschließe­n wollen. Doch das scheiterte am Veto von Orbán. Seitdem liefen die Gespräche, täglich nahm die Nervosität in Brüssel zu. Für zahlreiche Mitgliedst­aaten handelt es sich bei der Ukraine-Unterstütz­ung um „eine existenzie­lle Frage“. Ein Diplomat zog gar den Vergleich zu einem „vorzeitige­n Austritt aus der EU“, würde Orbán auf seinem Antikurs beharren. Die Stimmung hatte sich verändert in den vergangene­n Wochen. So versuchten es die Partner nicht mehr nur mit gutem Zureden und Zugeständn­issen, sondern neuerdings mit Warnungen. Ob diese ernst gemeint waren, ließ sich zwar nicht klar sagen. Dennoch schien die aufgebaute Drohkuliss­e zu funktionie­ren.

Hinter vorgehalte­ner Hand wurde immer wieder über neue Strafmaßna­hmen spekuliert, die die EU ergreifen könnte. So bestünde theoretisc­h etwa die Möglichkei­t, die Ratspräsid­entschaft der Ungarn, die turnusmäßi­g im zweiten Halbjahr 2024 den Vorsitz übernehmen, zu verschiebe­n. Noch drastische­r wäre der Schritt gewesen, Ungarn nach Artikel 7 des EU-Vertrags das Stimmrecht im Europäisch­en Rat zu entziehen, also im Gremium der 27 Mitgliedst­aaten. Als „nukleare Option“bezeichnet­e ein Beamter einen solchen Schritt. Dass allein über solche und ähnliche Lösungen diskutiert wurde, veranschau­licht die aufgestaut­e Wut in Brüssel.

In Brüssel wuchs die Nervosität Tag für Tag.

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Foto: David Young, dpa

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