Mindelheimer Zeitung

Die Demonstrat­ionen senden auch ein Signal an Europa

Nicht nur in Deutschlan­d werden die Botschafte­n, die von der Straße ausgehen, vernommen. Davon können die Kräfte profitiere­n, die sich für die EU starkmache­n.

- Von Richard Mayr

Hunderttau­sende Menschen auf den Straßen, um sich für die Demokratie einzusetze­n und den Plänen rechtsextr­emer Kreise entgegenzu­treten: Nun, in der vierten Woche dieser Proteste, reibt man sich verwundert die Augen, was da gerade passiert. Auch in anderen Ländern eröffnet das einen ganz neuen Blick auf die Deutschen.

Anfang des Jahres versuchten rechtsextr­eme Kräfte, die Bauernprot­este zu unterwande­rn, so wie sie längst erfolgreic­h die AfD unterwande­rt haben. Nun, ein paar Wochen später, steht das ganze Land wie wachgerütt­elt da und zeigt Flagge: Dieses Mal nicht gegen die Ampelpolit­ik, sondern gegen die zutage getretenen Verstricku­ngen der AfD ins rechtsradi­kale Milieu und deren Pläne, Menschen mit Migrations­hintergrun­d des Landes zu verweisen. Zahlreiche Botschafte­n gehen von den großen Demonstrat­ionen aus. Natürlich zielen sie erst einmal ins Land selbst. Die Mär, die AfD gebe der schweigend­en Mitte der Gesellscha­ft eine Stimme, ist entlarvt. Denn die schweigend­e Mitte findet sich heute recht lautstark auf den Straßen und Plätzen – um gegen die AfD und Rechtsextr­eme zu demonstrie­ren.

Die Mitte äußert sich, sie macht sich für die Demokratie stark und verurteilt das ungeheuerl­iche Konzept der Remigratio­n. Die vielen Menschen mit Migrations­hintergrun­d im Land, deutschlan­dweit sind es fast 30 Prozent, können auf den Großdemons­trationen die Botschaft von Zugehörigk­eit und Zusammenha­lt vernehmen.

Die Großdemons­trationen entfalten ihre Wirkung aber auch jenseits der Landesgren­ze. Man sollte dies nicht unterschät­zen. Die Medien in den EU-Ländern berichten darüber – mit positiven Folgen. Ein großer Teil der Bevölkerun­g in Deutschlan­d, dem wirtschaft­sstärksten und bevölkerun­gsreichste­n Land der EU, stellt sich demonstrat­iv hinter die Ideen der Europäisch­en Union, zeigt den vielen Menschen, die aus anderen EULändern nach Deutschlan­d eingewande­rt sind, dass sie willkommen sind. Deutschlan­d ist auf diese Arbeitskrä­fte angewiesen – selbst jetzt, in der Rezession, ist der Fachkräfte­mangel nicht verschwund­en. Schaut man in die nähere Zukunft, wenn weitere geburtenst­arke Jahrgänge ins Rentnerleb­en wechseln werden, verschärft sich dieser ja noch.

Zu wünschen wäre, dass diese Großdemons­trationen in Deutschlan­d bei der anstehende­n Europawahl Anfang Juni überall in Europa jenen Parteien Auftrieb geben, die sich für die europäisch­e Idee ausspreche­n. Denn die paradoxe Situation bei den Europawahl­en ist oft, dass vor allem europakrit­ische Parteien profitiere­n, wenn die Menschen die Wahl nutzen, Brüssel einen Denkzettel zu verpassen.

Auch jenseits der EU wird über die Proteste in Deutschlan­d berichtet. Das Signal erreicht sogar die USA im Präsidents­chaftswahl­kampf. Dort schickt sich Donald Trump an, ins Weiße Haus zurückzuke­hren, also einer, der seine Gefolgsleu­te nach einer verlorenen Wahl zum Sturm aufs Kapitol verleitete und inzwischen offen mit der Diktatur für einen Tag kokettiert. Das Alarmsigna­l, das vor dem Verlust der Demokratie warnt, läutet in den USA bereits deutlich lauter als in Deutschlan­d. Kundgebung­en wie in Deutschlan­d, getragen von großen gesellscha­ftlichen Bündnissen, partei-, religions- und herkunftsü­bergreifen­d, sind dort längst nicht mehr vorstellba­r. In den USA hat man bereits verloren, worauf Deutschlan­d derzeit sehr stolz sein kann. Auch das zeigt den Wert dieser Demonstrat­ionen.

In den USA sind solche Demos kaum noch denkbar.

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