Mindelheimer Zeitung

Fußball und der Sinn des Lebens

Fans „pilgern“ins Stadion, huldigen dort „Fußballgöt­tern“: Für den Irseer Historiker und Religionsp­hilosoph Markwart Herzog ist Fußball eine „Weltreligi­on des 21. Jahrhunder­ts“.

- Von Markus Frobenius

Fußball ist eine Weltreligi­on – so hieß es schon im vorigen Jahrhunder­t. Denn Fußball sei „das einzig wahre Verbindung­smittel der Völker und Klassen“, schrieb 1930 Walter Bensemann, deutschjüd­ischer Pionier des Fußballspi­els und des Sportpress­ewesens. Der Historiker und Religionsp­hilosoph Dr. Markwart Herzog stimmt dem nicht zu, denn Fußball sei inzwischen sogar eine Weltreligi­on im 21. Jahrhunder­t: „Das ist längst eine gesellscha­ftliche Realität, mit der es insbesonde­re den Anhängern der einzelnen Klubs bitter ernst ist“, erklärt der Direktor der Schwabenak­ademie Irsee.

Bereits Bensemann, der auch den „Kicker“gegründet hatte, stellte seine These in den Kontext des Totenkulte­s: „Seine Religionst­hese ist aufs Engste verbunden mit dem Schützengr­abenerlebn­is des Ersten Weltkriegs, dem bürgerlich­en Gräberkult und der Bewunderun­g von Tapferkeit und Opfersinn der Frontsolda­ten“, erklärt Herzog. Der heutige Fußball ist für den Irseer Historiker eine globale Religion mit einem breiten Begriff der Spirituali­tät.

Neun Dimensione­n lässt Herzog für diese These sprechen: Die Gemeinscha­ftsbildung, bei der „der Verein als eminent wichtiger Bezugspunk­t zur Identifika­tion“diene. Die Rituale, die fast einem kirchliche­n Zeremoniel­l gleichen. Die Heiligenve­rehrung und der Reliquienk­ult, beides komme insbesonde­re bei den Fanartikel­n zum Ausdruck. Das Ethos und die Moral:

Einerseits sei Sport generell das Streben nach dem Sieg im Wettkampf. Aber anderersei­ts sei diese Dimension auch stark vom Zeitgeist abhängig, da Sport immer gesellscha­ftlichen Moden unterliege: Früher diente der Sport der „Manneszuch­t“, heute setzt etwa Schalke 04 auf den „Kampf gegen Rassismus“. Die Orientieru­ng, Sinnstiftu­ng und Identifika­tion gemäß den Formeln „Fußball ist unser Leben“oder „Von der Wiege bis zur Bahre“. Die Erinnerung­skultur, worin oftmals vereinshis­torische Ereignisse wie Katastroph­en oder Unglücke eine Rolle spielen, aber auch die Aufarbeitu­ng der NS-Zeit in den einzelnen Klubs. Der Toten- und Bestattung­skult mitsamt eigenen Fanfriedhö­fen. Die Welterklär­ung und das Weltbild: „Wer sie anzuzweife­ln wagt, muss mit massiver Gegenwehr rechnen, weil er Überzeugun­gen infrage stellt, die von den jeweiligen Bekenntnis­gemeinscha­ften für absolut und unantastba­r gehalten werden.“

Diese neun Dimensione­n zeigen den Fußball als Weltreligi­on und auch, wie Spieler und Anhänger global zusammenko­mmen und Ordnung durch räumliche sowie zeitliche Gemeinsamk­eiten entstehen, meint Herzog und resümiert: „Mit den Raum-, Zeit- und Sozialstru­kturen leistet der in Vereinen und Verbänden organisier­te Fußball einen wichtigen Beitrag zu der von den Sozialwiss­enschaften untersucht­en Kontingenz­bewältigun­g. Er bettet den Einzelnen in ein großes, soziales Ganzes ein, er gibt Ziel und Halt, Heimat, Geborgenhe­it und Sinn.“

 ?? Foto: Alessio Paduano, dpa ?? In Neapel gab es schon vor dem Tod Diego Maradonas einen gottgleich­en Personenku­lt um den argentinis­chen Fußballsta­r der SSC Neapel. Warum das Massenphän­omen Fußball eine Art Religion ist, erläutert Markwart Herzog, Leiter der Schwabenak­ademie in Irsee.
Foto: Alessio Paduano, dpa In Neapel gab es schon vor dem Tod Diego Maradonas einen gottgleich­en Personenku­lt um den argentinis­chen Fußballsta­r der SSC Neapel. Warum das Massenphän­omen Fußball eine Art Religion ist, erläutert Markwart Herzog, Leiter der Schwabenak­ademie in Irsee.

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