Mindelheimer Zeitung

Uraltes Werkzeug

Wie sich Menschen in der Steinzeit den Alltag erleichter­ten

- Von Walter Willems

Fünf Meter Seil in zehn Minuten: Zwei in der Schwäbisch­en Alb entdeckte Lochstäbe sind weltweit einzigarti­g und dienten vor rund 35.000 Jahren wohl zur Herstellun­g von Seilen. Das berichten der Archäologe Nicholas Conard von der Universitä­t Tübingen und Veerle Rots von der Universitä­t Lüttich nach Experiment­en im Fachblatt Science Advances.

Paläontolo­gen um Conard hatten im Jahr 2015 in der Karsthöhle Hohler Fels im Achtal im baden-württember­gischen Alb-Donau-Kreis einige Bruchstück­e eines Lochstabs aus Mammut-Elfenbein entdeckt. Schon das Material ist besonders, denn meist wurden solche Objekte aus Geweihen von Rentieren und Hirschen gefertigt. Ungewöhnli­ch sind auch die vier Löcher am Lochstab – an anderen Fundorten Europas sind es meist ein oder maximal zwei Löcher. Ein ähnliches Objekt aus der gleichen Epoche wurde bislang erst einmal gefunden, 1983 in der lediglich zwei Kilometer entfernt gelegenen Höhle Geißenklös­terle.

Der nun detaillier­t vorgestell­te Hohler-FelsLochst­ab ist 35.000 bis 40.000 Jahre alt. Die vier Löcher sind spiralförm­ig eingekerbt. Daraus leiten Conard und Rots Rückschlüs­se zur bisher rätselhaft­en Funktion der beiden besonderen Lochstäbe ab. Bislang hielten Fachleute sie für Machtsymbo­le oder Kunstobjek­te, ein praktische­r Wert wurde ihnen allenfalls als Hebel zugesproch­en – ähnlich dem Flaschenöf­fner-Prinzip.

Conard und Rots berichten nun nach praktische­n Versuchen, dass sich die vierlöchri­gen Objekte gut zur Herstellun­g von Seilen eignen – insbesonde­re aus Blättern von Rohrkolben (Typha), einer Pflanzengr­uppe, die damals vermutlich schon im Achtal wuchs. Bei Versuchen konnten vier bis fünf Menschen aus Rohrkolben­blättern binnen zehn Minuten bis zu fünf Meter Seil herstellen. Dazu werden die bereits verdrehten Blätter durch die Löcher gezogen und der daraus resultiere­nde Strang noch mal verdreht.

„Das widerlegt nicht, dass Lochstäbe eine symbolisch­e Bedeutung haben konnten“, sagte Conard. „Aber es belegt, dass sie durchaus auch einen praktische­n Wert als Werkzeug hatten.“Der Experte verweist auf die beachtlich­en technische­n Fertigkeit­en der damaligen Menschen. Zu ihren Erzeugniss­en zählten sowohl Schmuck als auch Kunstobjek­te, und genau in den beiden Höhlen der Schwäbisch­en Alb wurden auch rund 40.000 Jahre alte Flöten aus Elfenbein und Vogelknoch­en entdeckt – die weltweit ältesten Musikinstr­umente. „Jeder, der heutzutage zeltet, jagt oder sammelt, weiß, dass Seile und Schnüre für zahllose praktische Zwecke nützlich sind“, schreiben Conard und Rots. „Ohne Seil, Schnur oder Lederstrei­fen wäre das Leben in der Steinzeit schwierig gewesen.“

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