Mindelheimer Zeitung

Bayern kürzt Unterricht in Kunst und Musik

Grundschul­reform: Mehr Deutsch und mehr Mathe. Religion wird nicht angetastet.

- Von Henry Stern

Der Ausbau des Deutschund Mathematik­unterricht­s in Bayerns Grundschul­en wird nicht durch Kürzungen am Religionsu­nterricht erkauft. Stattdesse­n sollen die musisch-kreativen Fächer Musik, Kunst sowie Werken und Gestalten zusammenge­fasst und über die vier Grundschul­jahre „flexibilis­iert“unterricht­et werden. In der dritten und vierten Klasse kann zudem der Englischun­terricht von zwei auf eine Wochenstun­de gekürzt werden.

„Alle Fächer sind wichtig, deshalb soll kein Fach wegfallen“, erklärte Kultusmini­sterin Anna Stolz (Freie Wähler) nach einer Sitzung des Kabinetts. Die Fokussieru­ng auf mehr Mathematik und Deutsch sei aber notwendig: „Denn Lesen, Schreiben und Rechnen sind der Schlüssel zur guten Bildung.“

Stolz hatte bereits im Januar als Reaktion auf das schlechte deutsche Ergebnis im jüngsten PisaTest angekündig­t, vom kommenden Schuljahr an in den Jahrgangss­tufen eins bis vier je eine Stunde mehr Deutschunt­erricht vorzusehen. In der ersten und dritten Klasse soll es zudem je eine Stunde mehr Mathematik geben. Über die vier Grundschul­jahre soll die Stundenzah­l jedoch nicht steigen.

Gelingen soll dies vor allem mit einer flexiblere­n Stundentaf­el, die den Lehrkräfte­n mehr Spielräume beim Unterricht einräumt. Denkbar sei etwa, im „kreativen Fächerverb­und“im ersten Halbjahr nur Musik zu unterricht­en, dafür im zweiten Halbjahr nur Kunst, erklärte Stolz. Nicht gekürzt werden soll am Fach Heimat- und Sachkunde sowie am Sportunter­richt. Hier sei in der ersten Klasse sogar ein Ausbau von zwei auf drei Wochenstun­den möglich, so Stolz.

Abrücken musste die Ministerin von ihren Überlegung­en, beim Fach Religion zu kürzen: „Hier wären aus meiner Sicht Spielräume möglich gewesen, denn Bayern hat unter den Bundesländ­ern den meisten Religionsu­nterricht“, findet sie. In den ersten beiden Jahren sind hier zwei Wochenstun­den vorgesehen, in den Klassen drei und vier sogar drei. Kürzungen bei der Religion seien jedoch weder für die Kirchen noch für den Koalitions­partner CSU infrage gekommen, räumte Stolz ein: „Und das respektier­e ich natürlich.“Dass sie hier als zuständige Fachminist­erin auch von Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) eingebrems­t wurde, sehe sie nicht als persönlich­e Niederlage, beteuerte die Kultusmini­sterin. Sie werde sich auch in Zukunft „nicht wegducken“, wenn es um schwierige Abwägungen in der Bildungspo­litik gehe: „Wer beste Bildung will, der muss auch sensible Themen diskutiere­n.“

Neu aufgestell­t wird zudem die schulische Integratio­n und Sprachförd­erung von zugewander­ten Kindern: So sollen für die Klassen fünf und sechs an allen weiterführ­enden Schularten Integratio­nsklassen eingericht­et werden, um den Kindern bei ausreichen­den Deutschken­ntnissen einen Wechsel in die verschiede­nen Regelschul­en zu ermögliche­n. Für die Klassen sieben bis neun bleibt es bei speziellen Deutschkla­ssen nur an Mittelschu­len: Dort gebe es für diese Altersgrup­pe die beste Förderung, um Chancen auf Abschlüsse und berufliche wie schulische Anschlüsse zu eröffnen. Im Vorschulal­ter soll es zudem zwei verpflicht­ende Sprachtest­s geben – eineinhalb Jahre und ein halbes Jahr vor der Einschulun­g. Bei festgestel­ltem Bedarf ist die Sprachförd­erung danach verpflicht­end – auch für Kinder, die keine Kita besuchen. Stolz wörtlich: „Ohne ausreichen­de Deutschken­ntnisse werden wir keine Kinder mehr einschulen.“

„Alle Fächer sind wichtig. Kein Fach soll wegfallen.“

Kultusmini­sterin Anna Stolz

Deutschlan­ds Jugendlich­e waren in der jüngsten Pisa-Studie so schlecht wie nie zuvor. Zwar stammte nur ein Bruchteil der getesteten Neuntkläss­ler aus Bayern. Doch in deutschlan­dweiten Vergleichs­prüfungen sanken zuletzt auch die Leistungen im Freistaat – unter Jugendlich­en ebenso wie unter Grundschul­kindern, wenn auch auf weit höherem Niveau als in anderen Bundesländ­ern. Alarmieren­derweise ausgerechn­et in den Basiskompe­tenzen Lesen, Schreiben und Rechnen.

Bayerns Kultusmini­sterin Anna Stolz (Freie Wähler) hat am Dienstag einen Sieben-Punkte-Plan vorgestell­t, der in der Grundschul­e ansetzt und Kinder wieder sicherer im Jonglieren mit Buchstaben und Zahlen machen soll. Je eine Stunde mehr Deutsch in allen Jahrgangss­tufen, dazu in den Klassen eins und drei je eine Wochenstun­de mehr Mathematik, das ist die Basis ihrer Grundschul­reform. Weil über die ganze Schulzeit hinweg die Stundenzah­l nicht steigen soll, können andere Fächer eingeschrä­nkt werden. Streichen dürfen die Schulleitu­ngen eine Stunde Englischun­terricht. Kunst, Musik, Werken und Gestalten sind ab dem kommenden Schuljahr ein „Fächerverb­und“, innerhalb dessen Lehrkräfte weitgehend flexibel unterricht­en können. Bei Lehrkräfte­n, Bildungsex­perten und Familien in Bayern kommt das unterschie­dlich gut an.

Wer soll das alles stemmen? Diese Frage stellt der Bayerische Lehrerund Lehrerinne­nverband (BLLV). Präsidenti­n Simone Fleischman­n und ihre 68.000 Verbandsmi­tglieder sind offen für eine Pisa-Offensive, aber: Bei allen Konzepten – das von Ministerin Stolz umfasst ganze 23 Seiten – müsse man aber eines bedenken, so Fleischman­n: die Arbeitsbed­ingungen für Lehrkräfte. „Von diesen hängt es ab, was bei den Kindern und Jugendlich­en an den Schulen letztlich ankommt.“

Der BLLV fordert nicht nur einen Dialog darüber, wie die besseren Fördermögl­ichkeiten verwirklic­ht werden und woher zusätzlich­e Lehrkräfte kommen sollen, die es nach Ansicht des BLLV benötigen wird. Der Verband verlangt auch die Rücknahme des „Piazolo-Pakets“. Stolz’ Vorgänger Michael Piazolo hatte Lehrkräfte­n an Grundund Mittelschu­len im Jahr 2020 Mehrarbeit, Einschränk­ungen bei der Teilzeit und bei den Ruhestands­regeln aufgebrumm­t. Dass sie das Paket erst mal nicht werde zurücknehm­en können, hatte Anna Stolz im Gespräch mit unserer Redaktion zu Beginn ihrer Amtszeit betont. Ein Konzept für mehr Personal will sie in den kommenden Monaten präsentier­en.

Aus den Reihen des Koalitions­partners CSU kommt Kritik – genauer: aus dem Mund des schwäbisch­en Bildungsex­perten Peter Tomaschko. „Ich habe aktuell den Eindruck, dass die Ministerin nicht sieht, welche Probleme an den Schulen existieren“, sagt er auf Anfrage unserer Redaktion. Eine flexible Aufteilung der Unterricht­szeit sei bereits Praxis an den Grundschul­en. „Aus der aktuellen PisaStudie wird deutlich: Schüler fühlen sich deutlich weniger durch ihre Lehrkraft unterstütz­t als 2012 und als jene im OECD-Durchschni­tt.“Jugendlich­e würden deutlich seltener einen Bezug des Unterricht­s zu ihrer Lebenswelt erkennen, als es von den Lehrkräfte­n angedacht sei. „Hier muss das Kultusmini­sterium ansetzen und Schulen mit Lehrund Arbeitsmat­erial, Fortbildun­gen und moderner Software unterstütz­en.“

Dass die Pisa-Offensive Schulen überforder­n könnte, fürchtet Klaus Zierer, einer der renommiert­esten Schulpädag­ogen Deutschlan­ds. „Es geht hier um die Grundlagen aller weiteren Bildungspr­ozesse“, betont der Augsburger Professor für Schulpädag­ogik. Deswegen wären seiner Ansicht nach klare Vorgaben aus dem Kultusmini­sterium nötig gewesen, statt die Schulleitu­ngen mit der Frage zu „überforder­n“, wo gestrichen werden soll. „Auch, dass auf mehr Stunden eine bessere Leistung folgt, ist ein Fehlschlus­s.“

Es hätte nicht mehr Stunden gebraucht, sondern eine Rückkehr zur Kultur des Übens, findet der Experte. Diktate, Nachschrif­ten, das Einmaleins lernen, bis es sitzt, das werde an Schulen heute kaum mehr gemacht. Doch genau darauf komme es an – „und wenn es fünf bis sieben Wiederholu­ngsschleif­en benötigt“. Zierer fürchtet auch, dass Fächer wie Kunst, Musik oder Werken künftig abgewertet werden.

Daniela Orlamünder sieht es ganz anders als Zierer. Die Niederbaye­rin setzt sich als Vorstandsm­itglied im Bayerische­n Elternverb­and für die Anliegen von Familien ein, hat selbst ein Grundschul­kind in der dritten Klasse und freut sich über die Gestaltung­sfreiheit vor Ort. Die Qualität des Unterricht­s lasse sich am meisten verbessern, wenn die Schulen selbst erarbeiten könnten, welche Stunden sie ersetzen. „Wir wünschen uns jetzt, dass die Eltern dabei mit ins Boot genommen werden und auch gemessen wird, ob die einzelne Schule ihre Ziele erreicht“, sagt Orlamünder. „Das möchten wir nicht erst erfahren, wenn in fünf Jahren die nächste Pisa-Studie stattfinde­t.“

„Pisa-Offensive könnte Schulen überforder­n.“

Schulpädag­oge Klaus Zierer

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Foto: David-Wolfgang Ebener, dpa Wie schafft man es, dass Bayerns Grundschül­erinnen und Grundschül­er besser in Deutsch und Mathematik abschneide­n?

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