Bayern kürzt Unterricht in Kunst und Musik
Grundschulreform: Mehr Deutsch und mehr Mathe. Religion wird nicht angetastet.
Der Ausbau des Deutschund Mathematikunterrichts in Bayerns Grundschulen wird nicht durch Kürzungen am Religionsunterricht erkauft. Stattdessen sollen die musisch-kreativen Fächer Musik, Kunst sowie Werken und Gestalten zusammengefasst und über die vier Grundschuljahre „flexibilisiert“unterrichtet werden. In der dritten und vierten Klasse kann zudem der Englischunterricht von zwei auf eine Wochenstunde gekürzt werden.
„Alle Fächer sind wichtig, deshalb soll kein Fach wegfallen“, erklärte Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) nach einer Sitzung des Kabinetts. Die Fokussierung auf mehr Mathematik und Deutsch sei aber notwendig: „Denn Lesen, Schreiben und Rechnen sind der Schlüssel zur guten Bildung.“
Stolz hatte bereits im Januar als Reaktion auf das schlechte deutsche Ergebnis im jüngsten PisaTest angekündigt, vom kommenden Schuljahr an in den Jahrgangsstufen eins bis vier je eine Stunde mehr Deutschunterricht vorzusehen. In der ersten und dritten Klasse soll es zudem je eine Stunde mehr Mathematik geben. Über die vier Grundschuljahre soll die Stundenzahl jedoch nicht steigen.
Gelingen soll dies vor allem mit einer flexibleren Stundentafel, die den Lehrkräften mehr Spielräume beim Unterricht einräumt. Denkbar sei etwa, im „kreativen Fächerverbund“im ersten Halbjahr nur Musik zu unterrichten, dafür im zweiten Halbjahr nur Kunst, erklärte Stolz. Nicht gekürzt werden soll am Fach Heimat- und Sachkunde sowie am Sportunterricht. Hier sei in der ersten Klasse sogar ein Ausbau von zwei auf drei Wochenstunden möglich, so Stolz.
Abrücken musste die Ministerin von ihren Überlegungen, beim Fach Religion zu kürzen: „Hier wären aus meiner Sicht Spielräume möglich gewesen, denn Bayern hat unter den Bundesländern den meisten Religionsunterricht“, findet sie. In den ersten beiden Jahren sind hier zwei Wochenstunden vorgesehen, in den Klassen drei und vier sogar drei. Kürzungen bei der Religion seien jedoch weder für die Kirchen noch für den Koalitionspartner CSU infrage gekommen, räumte Stolz ein: „Und das respektiere ich natürlich.“Dass sie hier als zuständige Fachministerin auch von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eingebremst wurde, sehe sie nicht als persönliche Niederlage, beteuerte die Kultusministerin. Sie werde sich auch in Zukunft „nicht wegducken“, wenn es um schwierige Abwägungen in der Bildungspolitik gehe: „Wer beste Bildung will, der muss auch sensible Themen diskutieren.“
Neu aufgestellt wird zudem die schulische Integration und Sprachförderung von zugewanderten Kindern: So sollen für die Klassen fünf und sechs an allen weiterführenden Schularten Integrationsklassen eingerichtet werden, um den Kindern bei ausreichenden Deutschkenntnissen einen Wechsel in die verschiedenen Regelschulen zu ermöglichen. Für die Klassen sieben bis neun bleibt es bei speziellen Deutschklassen nur an Mittelschulen: Dort gebe es für diese Altersgruppe die beste Förderung, um Chancen auf Abschlüsse und berufliche wie schulische Anschlüsse zu eröffnen. Im Vorschulalter soll es zudem zwei verpflichtende Sprachtests geben – eineinhalb Jahre und ein halbes Jahr vor der Einschulung. Bei festgestelltem Bedarf ist die Sprachförderung danach verpflichtend – auch für Kinder, die keine Kita besuchen. Stolz wörtlich: „Ohne ausreichende Deutschkenntnisse werden wir keine Kinder mehr einschulen.“
„Alle Fächer sind wichtig. Kein Fach soll wegfallen.“
Kultusministerin Anna Stolz
Deutschlands Jugendliche waren in der jüngsten Pisa-Studie so schlecht wie nie zuvor. Zwar stammte nur ein Bruchteil der getesteten Neuntklässler aus Bayern. Doch in deutschlandweiten Vergleichsprüfungen sanken zuletzt auch die Leistungen im Freistaat – unter Jugendlichen ebenso wie unter Grundschulkindern, wenn auch auf weit höherem Niveau als in anderen Bundesländern. Alarmierenderweise ausgerechnet in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen.
Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) hat am Dienstag einen Sieben-Punkte-Plan vorgestellt, der in der Grundschule ansetzt und Kinder wieder sicherer im Jonglieren mit Buchstaben und Zahlen machen soll. Je eine Stunde mehr Deutsch in allen Jahrgangsstufen, dazu in den Klassen eins und drei je eine Wochenstunde mehr Mathematik, das ist die Basis ihrer Grundschulreform. Weil über die ganze Schulzeit hinweg die Stundenzahl nicht steigen soll, können andere Fächer eingeschränkt werden. Streichen dürfen die Schulleitungen eine Stunde Englischunterricht. Kunst, Musik, Werken und Gestalten sind ab dem kommenden Schuljahr ein „Fächerverbund“, innerhalb dessen Lehrkräfte weitgehend flexibel unterrichten können. Bei Lehrkräften, Bildungsexperten und Familien in Bayern kommt das unterschiedlich gut an.
Wer soll das alles stemmen? Diese Frage stellt der Bayerische Lehrerund Lehrerinnenverband (BLLV). Präsidentin Simone Fleischmann und ihre 68.000 Verbandsmitglieder sind offen für eine Pisa-Offensive, aber: Bei allen Konzepten – das von Ministerin Stolz umfasst ganze 23 Seiten – müsse man aber eines bedenken, so Fleischmann: die Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. „Von diesen hängt es ab, was bei den Kindern und Jugendlichen an den Schulen letztlich ankommt.“
Der BLLV fordert nicht nur einen Dialog darüber, wie die besseren Fördermöglichkeiten verwirklicht werden und woher zusätzliche Lehrkräfte kommen sollen, die es nach Ansicht des BLLV benötigen wird. Der Verband verlangt auch die Rücknahme des „Piazolo-Pakets“. Stolz’ Vorgänger Michael Piazolo hatte Lehrkräften an Grundund Mittelschulen im Jahr 2020 Mehrarbeit, Einschränkungen bei der Teilzeit und bei den Ruhestandsregeln aufgebrummt. Dass sie das Paket erst mal nicht werde zurücknehmen können, hatte Anna Stolz im Gespräch mit unserer Redaktion zu Beginn ihrer Amtszeit betont. Ein Konzept für mehr Personal will sie in den kommenden Monaten präsentieren.
Aus den Reihen des Koalitionspartners CSU kommt Kritik – genauer: aus dem Mund des schwäbischen Bildungsexperten Peter Tomaschko. „Ich habe aktuell den Eindruck, dass die Ministerin nicht sieht, welche Probleme an den Schulen existieren“, sagt er auf Anfrage unserer Redaktion. Eine flexible Aufteilung der Unterrichtszeit sei bereits Praxis an den Grundschulen. „Aus der aktuellen PisaStudie wird deutlich: Schüler fühlen sich deutlich weniger durch ihre Lehrkraft unterstützt als 2012 und als jene im OECD-Durchschnitt.“Jugendliche würden deutlich seltener einen Bezug des Unterrichts zu ihrer Lebenswelt erkennen, als es von den Lehrkräften angedacht sei. „Hier muss das Kultusministerium ansetzen und Schulen mit Lehrund Arbeitsmaterial, Fortbildungen und moderner Software unterstützen.“
Dass die Pisa-Offensive Schulen überfordern könnte, fürchtet Klaus Zierer, einer der renommiertesten Schulpädagogen Deutschlands. „Es geht hier um die Grundlagen aller weiteren Bildungsprozesse“, betont der Augsburger Professor für Schulpädagogik. Deswegen wären seiner Ansicht nach klare Vorgaben aus dem Kultusministerium nötig gewesen, statt die Schulleitungen mit der Frage zu „überfordern“, wo gestrichen werden soll. „Auch, dass auf mehr Stunden eine bessere Leistung folgt, ist ein Fehlschluss.“
Es hätte nicht mehr Stunden gebraucht, sondern eine Rückkehr zur Kultur des Übens, findet der Experte. Diktate, Nachschriften, das Einmaleins lernen, bis es sitzt, das werde an Schulen heute kaum mehr gemacht. Doch genau darauf komme es an – „und wenn es fünf bis sieben Wiederholungsschleifen benötigt“. Zierer fürchtet auch, dass Fächer wie Kunst, Musik oder Werken künftig abgewertet werden.
Daniela Orlamünder sieht es ganz anders als Zierer. Die Niederbayerin setzt sich als Vorstandsmitglied im Bayerischen Elternverband für die Anliegen von Familien ein, hat selbst ein Grundschulkind in der dritten Klasse und freut sich über die Gestaltungsfreiheit vor Ort. Die Qualität des Unterrichts lasse sich am meisten verbessern, wenn die Schulen selbst erarbeiten könnten, welche Stunden sie ersetzen. „Wir wünschen uns jetzt, dass die Eltern dabei mit ins Boot genommen werden und auch gemessen wird, ob die einzelne Schule ihre Ziele erreicht“, sagt Orlamünder. „Das möchten wir nicht erst erfahren, wenn in fünf Jahren die nächste Pisa-Studie stattfindet.“
„Pisa-Offensive könnte Schulen überfordern.“
Schulpädagoge Klaus Zierer