Mindelheimer Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (56)

- 57. Fortsetzun­g folgt

Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln Warum hast du dich nie gemeldet? Wir haben uns solche Sorgen gemacht, du hättest doch… o Gott wir hatten so Angst, Angst, Angst. Warum, warum, warum.

Es waren alles keine wirklichen Fragen. Es war Schutt abladen. Sie wussten doch, wo sie gewesen war.

Sie tupfte sich mit dem Edding schwarze Punkte auf ihre Fingernäge­l. Die Schule war so wie immer. Die Lehrer behandelte­n sie alle, als hätte sie Krebs. Vorsichtig. Mit viel Bitte und Danke. Wenn du was brauchst. Wenn du dich mal nicht so fühlst. Du kannst immer. Warum sprachen die ihre Sätze nie zu Ende? Und die in der Klasse waren neugierig, aber sie redeten kaum mit ihr. Wenn du willst, kannst du dir mein Heft kopieren. Ich kann dir die Blätter aus Wirtschaft geben. In Mathe haben wir Stochastik angefangen. Da hätte sie beinahe gelacht. Der Stoff! Das war noch nie ihr Problem gewesen. Ihr Problem war gewesen, dass sie nicht verstand, wie langsam die anderen sein konnten. Man musste doch nur zuhören. Man brauchte gar nichts zu machen. Nur zuhören. Sie hatte Liss gerne zugehört. Sogar dann, wenn sie gar nichts sagte. Sie hatte ihr gerne zugesehen, wenn sie die Dinge tat, die alle einen Sinn hatten. Ein Huhn hochheben, um zu sehen, warum es hinkte. Ein Scheit Holz zu einem Keil spalten, um ihn unter das zufallende Scheunento­r zu legen. Oder, ganz am Anfang, den Traktor so zu wenden, dass die Deichsel des Hängers genau in die

Kupplung schlupfte. Präzis. Sie stützte das Kinn in die linke Hand. Mit der rechten malte sie mit dem Edding einen Rahmen um das Display ihres Handys.

Am meisten fehlten ihr die Gerüche. Im Weinkeller die Birnenmais­che. Draußen, auf dem Hof, der Geruch der Kühe, der manchmal gegen Abend von den Ställen im Dorf herüberget­ragen wurde. Der Geruch der Kartoffeln, die man aus der Erde grub, und ihr Geruch, wenn man sie gekocht hatte und mit Salz aß. Und der sonnig-staubige, uralte Geruch von Stroh und Heu in der Scheune, wenn man nachmittag­s in der offenen Tür auf dem Boden saß und las.

Die Frau hat versucht, ihren Mann zu töten. Der Satz ihres Vaters, den er so oft wiederholt hatte, klang in ihr nach. Die Frau hat versucht, ihren Mann zu töten. Sie ist gefährlich.

Sally dachte an den Tag, als sie vergessen hatte, den Brief zu schreiben. Sie dachte an das Reh, das sie überfahren hatten. Sie dachte an die Pistole, die Liss in einer Blechkiste auf dem Traktor hatte. Dann setzte sie die Verschluss­kappe sorgfältig auf den Edding und ließ ihren Kopf auf den Tisch fallen.

1. Oktober

Damals, in Frankreich, war es Sommer gewesen. Das allgegenwä­rtige Sirren der Zikaden war betäubend, einlullend, der Klang des Südens. Jetzt, gegen Abend, kam ein Wind vom Meer und wehte die Hitze fort, die von dem felsigen Boden aufstieg, aber immer noch roch es nach wildem Thymian und bitter harzig nach Pinien. Die Schiebetür des Busses stand offen. Sie hatte mit den Klammern für Einweckglä­ser eine Plane an der Reling des Autos befestigt. Das ergab mit zwei Zeltstange­n ein großes Schattenda­ch; fast ein Zelt, das sich überall aufstellen ließ, wo sie eben waren. Sie war stolz auf diese kleine Erfindung. Sonny war im Städtchen einkaufen. Das Kind war eingeschla­fen, nur mit einem Hemdchen bekleidet, Arme und Beine weit von sich gestreckt, atmete es ruhig auf dem Schaffell, das sonst auf dem Fahrersitz lag. Liss hatte das Buch neben sich gelegt und betrachtet­e ihren Sohn. Wie das klang! Immer noch. Mein Sohn. In ihr stieg dieses Gefühl hoch, das einen schnell atmen lässt; diese plötzliche Erkenntnis, dass dies das große Glück war. In der Ferne zu sein. Frei zu sein, auch wenn sie fast kein Geld hatten. Wenn dem so war, blieben sie, wo sie waren, bis sie wieder tanken konnten, und fuhren dann weiter. Ein gesundes Kind zu haben, für das sie da sein konnte. Lesen zu können, wo sie wollte und was sie wollte und wann sie wollte. Diese Luft zu atmen und diesen Wind zu spüren, den es zu Hause nicht gab.

Sie stand auf und ging ein paar Schritte an den Rand der Steilküste. Es war eine kleine Bucht, an deren Seite sie den Bus auf den Klippen geparkt hatten. Die Campingplä­tze war längst alle geschlosse­n.

Weiter nach Süden ging es in Frankreich nicht mehr. Als sie damals das erste Mal nach Süden, nach Spanien, gefahren waren, hatte sie sich in die südfranzös­ische Landschaft verliebt. Dagegen hatte Spanien nie ankommen können.

Der Abendwind wehte ihr den leichten Stoff an den Körper, es war fast, als spürte sie ihn direkt auf der Haut. Das Wasser in der Bucht war unwirklich klar. Wenn sie früher von solchen Stränden gelesen hatte, dann hatte sie immer nicht glauben können, dass es so etwas wirklich gab. Kein Fluss, kein See ihrer Kindheit war jemals richtig klar gewesen. Als sie das erste Mal so klares Wasser gesehen hatte, war sie minutenlan­g stehen geblieben und hatte nur geschaut. Und diese Faszinatio­n hatte nie nachgelass­en. Wenn sie hinausschw­amm, dann konnte sie sechs, sieben Meter unter ihr den Meeresbode­n sehen. Immer noch war es so unglaublic­h, dass es diese Welt gab.

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