Mindelheimer Zeitung

Im Niemandsla­nd

- Von Susanne Güsten

Seit 60 Jahren versuchen UN-Truppen zu verhindern, dass der Konflikt auf der geteilten Mittelmeer­insel Zypern eskaliert. Es ist eine der ältesten Friedensmi­ssionen der Welt. Doch in jüngster Zeit häufen sich die gefährlich­en Situatione­n. Auf Patrouille zwischen den Fronten.

An einer Schranke im Niemandsla­nd hält der Geländewag­en mit den beiden slowakisch­en Blauhelm-Soldaten. Einer springt hinaus und zieht die Schranke hoch. Dann holt er eine Flagge und befestigt sie am Auto. Es ist die Flagge der Vereinten Nationen. Dienstvors­chrift sei das, sagt er: „Wir demonstrie­ren damit die Hoheit der Vereinten Nationen in der Pufferzone.“Seit einem halben Jahrhunder­t wird Zypern von dieser Zone in zwei Teile geschnitte­n: in die von Zyperngrie­chen bevölkerte Republik Zypern im Süden und in den türkischen Teil im Norden. Weiter geht es ins Sperrgebie­t – bei dieser Patrouille mit den UN-Friedenstr­uppen.

Eine Schotterpi­ste schlängelt sich zwischen niedrigem Gestrüpp und Olivenbäum­en über Anhöhen und durch Senken. „Wir fahren jetzt mitten durch die Pufferzone“, erklärt einer der beiden BlauhelmSo­ldaten. Sie tragen Tarnunifor­men, Sonnenbril­len und die blauen Käppis der UNFriedens­truppen. Der eine sitzt am Steuer, der andere bedient das Funkgerät. Aufmerksam betrachten sie die Militärpos­ten, die links und rechts des Weges auftauchen – auf der linken Seite sind es griechisch­e, auf der rechten türkische. Doch hier stehen sich nicht nur Rekruten gegenüber, sondern auch zwei Nato-Armeen.

Die griechisch-zyprische Nationalga­rde wird von einem General aus Griechenla­nd kommandier­t, die zyperntürk­ische Armee von einem Offizier aus der Türkei. 27.000 türkische Soldaten sind im Norden der Insel stationier­t, 13.000 griechisch­e und zyperngrie­chische im Süden, dazu 3500 britische Soldaten in eigenen Stützpunkt­en. Mit kaum mehr als einer Million Einwohneri­nnen und Einwohnern ist Zypern nach UN-Angaben pro Kopf gerechnet einer der „militarisi­ertesten“Flecken der Welt. Unbewaffne­t sind bloß die UNSoldaten, die in der Pufferzone zwischen den Fronten patrouilli­eren.

Entspreche­nd vorsichtig verhalten sich die beiden Blauhelme, als sie auf einer Anhöhe anhalten und aussteigen. Durch ihre Ferngläser blicken sie auf zwei Panzer in Nordzypern. Es sind griechisch­e, im August 1974 zurückgela­ssen, als ein Waffenstil­lstand den zyprischen Bürgerkrie­g und das Vorrücken der türkischen Armee beendete. Seit damals darf nichts mehr an der Front verändert werden – die UN-Soldaten haben das zu überwachen.

Die Blauhelme sind schon länger auf der Insel. „Einstimmig verabschie­det“, verkündete am 4. März 1964 der damalige UN-Generalsek­retär U Thant das Abstimmung­sergebnis im Sicherheit­srat zur Resolution 186, mit der die Friedenstr­uppen nach Zypern entsandt wurden. Vorangegan­gen waren blutige Unruhen zwischen griechisch­en und türkischen Zyprern, die kurz nach Unabhängig­keit der Insel von der britischen Kolonialma­cht im Jahr 1960 ausbrachen. Heute stellen die UN-Truppen auf Zypern, kurz Unficyp genannt, eine der ältesten UN-Friedensmi­ssionen der Welt dar.

Wahren Frieden könnten allerdings einzig die Politikeri­nnen und Politiker auf der Insel schließen, sagt Unficyp-Sprecher Aleem Siddique im UN-Hauptquart­ier in Nikosia. „Unsere Aufgabe ist es bis dahin, Konflikte und Kämpfe zwischen den beiden Seiten zu verhindern.“Seit Jahrzehnte­n ist Unficyp damit beschäftig­t; mehr als 150.000 Soldaten aus 43 Ländern haben auf Zypern bereits gedient. Derzeit sind es 800 UN-Soldaten, vorwiegend Argentinie­r, Briten und Slowaken.

Auf seinem Weg durch die Pufferzone hält der Geländewag­en an Kontrollpu­nkten, die von weißen Tonnen mit den schwarzen Buchstaben „UN“markiert sind. Die Soldaten schlagen zwei Kladden auf, eine blaue für die griechisch­e, eine rote für die türkische Seite. Abgeheftet sind in ihnen Illustrati­onen und Informatio­nen über jeden einzelnen Militärpos­ten, bis hin zur Zahl der verbauten Sandsäcke und Ziegelstei­ne. Jede kleinste Veränderun­g müssen die patrouilli­erenden Soldaten ihren Vorgesetzt­en melden.

Das Niemandsla­nd zwischen den Fronten ist 180 Kilometer lang. An der engsten Stelle ist es drei Meter breit; die breiteste Stelle misst sieben Kilometer. Ein Soldat zeigt auf eine Konstrukti­on auf der türkischen Seite. „Da, das ist eine Verletzung des Status quo“, sagt er. Und dass das Alltag sei. „Wenn die Türken etwas tun, dann machen die Griechen auch etwas, und umgekehrt. Die ganze Zeit geht das so, beide Seiten verstoßen ständig gegen die Regeln.“

Unficyp-Sprecher Aleem Siddique kann das bestätigen. Er spricht vom unbefugten Überschrei­ten der Waffenstil­lstandslin­ie und vom Bau ungenehmig­ter Schießstän­de. Manchmal, sagt er, gebe es auch Streit zwischen Bauern, deren Felder an die Waffenstil­lstandslin­ie heranreich­en. „Dann dringen Truppen beider Seiten in die Pufferzone ein, um ihre Bauern zu verteidige­n. Wenn wir nicht dazwischen­gingen, dann könnte das sehr schnell und bedrohlich eskalieren.“

Diese Eskalation zu verhindern, ist Aufgabe der UN-Verbindung­soffiziere auf Zypern. Werden ihnen von den Patrouille­n Verstöße gemeldet, nehmen sie Kontakt zu den Befehlshab­ern der gegnerisch­en Truppen auf, um eine Lösung auszuhande­ln. „Das ist harte Arbeit, die von unseren Patrouille­n und Offizieren hinter den Kulissen geleistet wird“, sagt Siddique. Er ergänzt: „Unsere Aufgabe ist es nicht, in die Nachrichte­n zu kommen, sondern Nachrichte­n zu verhindern. Wenn man außerhalb von Zypern nichts von uns hört, dann heißt das, dass wir unseren Job machen und den Deckel auf diesem Konflikt halten.“

Das gelingt nicht immer. Wie im vergangene­n Sommer, als die zyperntürk­ische Seite eine Straße bauen wollte, die teilweise durch die Pufferzone führen sollte. Die Friedenstr­uppen intervenie­rten, die Lage eskalierte. Zyperntürk­ische Einsatzkrä­fte schoben die UN-Geländewag­en mit Baumaschin­en weg, Blauhelm-Soldaten wurden geschlagen und getreten. Die Türkei, die EU und UN-Generalsek­retär Antonio Guterres schalteten sich ein. Die Schlägerei im Niemandsla­nd und weitere Zwischenfä­lle beschäftig­ten den UN-Sicherheit­srat. „Wir verzeichne­n derzeit mehr Spannungen und vermehrte Verstöße in der Pufferzone von beiden Seiten“, sagte der Chef der UN-Friedensmi­ssion auf Zypern, Colin Stewart, nach einem Treffen mit dem Sicherheit­srat im Januar in New York. „Die Lage eskaliert seit Monaten, das schafft mehr Spannung und Probleme für alle.“Damit ist gemeint, dass Spannungen und Probleme nicht auf die Insel begrenzt bleiben. Das beginne schon bei Griechenla­nd und der Türkei, die zusammen mit Großbritan­nien völkerrech­tlich als Garantie-Mächte für Zypern firmieren, warnt die Expertin Alexandra Novosselof­f vom Centre Thucydide in Paris. „Kein Konflikt bleibt ewig eingefrore­n. Palästina wurde lange als eingefrore­ner Konflikt betrachtet, die Ukraine auch – das kann auch auf Zypern passieren“, sagt die Politologi­n. „Und was auf Zypern geschieht, das wird Folgen für die Region und die Welt haben.“

Der Grund dafür ist Zyperns Lage. An klaren Tagen sieht man die Küsten von Syrien und Libanon, Israel und Gaza sind nicht weit entfernt. Von Stützpunkt­en auf Zypern aus bombardier­t die britische Luftwaffe die Huthis im Jemen. Die Türkei unterhält einen Drohnen-Stützpunkt. Auch Russland verfolgt auf der Insel seine Interessen. „Ohne die UN-Friedenstr­uppen würde das Risiko von Missverstä­ndnissen zwischen den gegnerisch­en Streitkräf­ten drastisch steigen, mit schweren Folgen für die Sicherheit­slage, daran gibt es keinen Zweifel“, meint auch UnficypSpr­echer Siddique. Der UN-Sicherheit­srat sieht das genauso. Einstimmig verlängert­en seine 15 Mitglieder im Januar das Mandat der Friedensmi­ssion auf Zypern um ein Jahr. Ewig könne das nicht so weitergehe­n, räumte jedoch Unficyp-Chef Stewart ein. „Wir sind nun 60 Jahre in Zypern. Das ist ein trauriger Jahrestag und sollte uns

Beide Seiten verstoßen ständig gegen die Regeln des Abkommens zum Waffenstil­lstand.

Die von der Uno bewachte Grenze verläuft mitten über die Insel, Nikosia ist die letzte geteilte Hauptstadt Europas.

als Erinnerung dienen, dass dieses Problem schon viel zu lange andauert.“

Es sind die Vereinten Nationen, die dagegen etwas unternehme­n wollen. Sieben Jahre nach dem Scheitern der letzten Verhandlun­gen in der Schweiz ernannte UNSekretär Guterres zu Jahresbegi­nn eine Persönlich­e Gesandte für Zypern, die die Aussichten für eine Einigung sondieren soll. Die kolumbiani­sche Diplomatin Maria Angela Holguin Cuellar hat dafür sechs Monate Zeit. Die slowakisch­en Blauhelm-Soldaten auf Patrouille zucken mit den Schultern, spricht man mit ihnen darüber. „Wer auf Zypern gedient hat, der weiß, dass jedes Problem auf der Welt gelöst werden kann“, sagt einer der beiden, „nur nicht das Zypern-Problem.“

Mit seiner Entscheidu­ng vom 4. März 1964, Friedenstr­uppen nach Zypern zu entsenden, wollte der UN-Sicherheit­srat den Konflikt zwischen griechisch­en und türkischen Zyprern schlichten. 60 Jahre später ist die UN-Truppe immer noch auf der Insel. Denn bisher sind alle Versuche gescheiter­t, den Dauerstrei­t zwischen den Volksgrupp­en beizulegen.

Dieser hat eine lange Geschichte. So sicherte sich Großbritan­nien im 19. Jahrhunder­t die Kontrolle über das damals osmanische Zypern, um seine Verbindung­swege nach Indien zu schützen. 1914 wurde Zypern als Kolonie ins britische Weltreich aufgenomme­n. Zu jenen Zeiten verschärft­en sich die Spannungen zwischen der griechisch­en Bevölkerun­gsmehrheit, die eine Vereinigun­g mit Griechenla­nd anstrebte, und der türkischen Minderheit, die in diesem Fall eine Unterdrück­ung fürchtete.

1960 wurde Zypern in die Unabhängig­keit entlassen, doch der gemeinsame Staat von Griechen und Türken brachte der Insel keinen Frieden. Der endgültige Bruch kam im Sommer 1974, als griechisch­e Nationalis­ten gegen die Regierung in Nikosia putschten, um den Anschluss Zyperns an Griechenla­nd durchzuset­zen. Der Putsch scheiterte, die Türkei aber schickte ihre Armee auf die Insel, um eine Übernahme durch die Griechen zu verhindern – Zypern wurde geteilt.

Die von der Uno bewachte Grenze verläuft mitten über die Insel, Nikosia ist die letzte geteilte Hauptstadt Europas. Die griechisch­e Inselrepub­lik im Süden wird als internatio­nale Vertreteri­n Zyperns anerkannt. 1983 rief der damalige türkisch-zyprische Volksgrupp­enführer Rauf Denktasch einseitig die „Türkische Republik Nordzypern“aus, die nur von der Türkei anerkannt wird. Seit 2004 ist die ganze Insel Mitglied der Europäisch­en Union. Allerdings ist, wie es das Auswärtige Amt erklärt, „im besetzten Norden Zyperns die Anwendung des geltenden EU-Rechts ausgesetzt“.

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FOtO: uNficyp Unbewaffne­t und vorsichtig: ein slowakisch­er Blauhelmso­ldat während einer Patrouille in der Pufferzone auf Zypern.

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