Mindelheimer Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (59)

- 60. Fortsetzun­g folgt

Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Die Stege fielen steil ab, und als sie sich über die Brüstung beugte, sah sie etwa acht Meter unter ihr nur eine grau-schlammige Wüste, in der die Boote nutzlos zur Seite gekippt herumlagen. Einen halben Kilometer entfernt glitzerte das Band der Fahrrinne. Sie hatte nicht gewusst, was ein Tidenhub war. Sie hatte von Ebbe und Flut gelesen, aber dass ein Meer einfach fortfloss und eine Wüste hinterließ, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Sie hatte den Meeresgrun­d noch nie nackt gesehen. Es war kein schöner Anblick.

Und so fühlte sie sich jetzt innen an. Als ob alles aus ihr geflossen wäre und in ihr eine Wüste aus Schlamm wäre. Aus der all das hässlich und schroff und überwachse­n herausragt­e, was sonst unter der glitzernde­n Oberfläche des Wassers verborgen lag. All das, was in einem auf den Grund sinkt und dort fault und modert. Alles war aus ihr herausgefl­ossen, und sie war leer bis auf den stinkenden Bodensatz.

Sie drehte sich im Weinkeller um ihre eigene Achse und dachte: Wäre ich ein Fass, ich würde mich wegwerfen. Da kannst du keinen Wein mehr einfüllen. Das kriegst du nie wieder sauber.

Wahllos zog sie zwei Flaschen Wein aus den Regalen, stieg hoch in die Küche und begann zu trinken, und sie hätte nicht sagen können, ob der Wein schmeckte oder nicht. Es war nur der verzweifel­te Versuch, irgendetwa­s in die große Leere in ihr zu gießen.

3. Oktober

Sally war das erste Mal in ihrem Leben in einem Archiv. Man sollte doch denken, dass man im Zeitalter des Internets alles im Netz finden konnte, aber als sie zum ersten Mal den Namen von Liss’ Dorf und das Schlagwort „Mordversuc­h“eingegeben hatte, stellte sie vor allem fest, dass anscheinen­d jeder jeden schon mal hatte umbringen wollen.

Scheiße, das Internet war voller Mordversuc­he. Bilder. Beschreibu­ngen. Kranke Fantasien. Chatrooms. Über Liss’ Dorf gab es gar nichts. Nicht mal einen WikipediaE­intrag. Oder doch, aber nur mit ungefähr acht Sätzen und einem unscharfen Bild von der Kirche.

Irgendwann war sie auf die Idee mit der Zeitung gekommen. Sie hatte sich erinnert, dass Liss ja aus der Zeitung erfahren hatte, dass man Sally vermisste. Wahrschein­lich war über Liss auch mal in einer Zeitung berichtet worden. Wie nebenbei hatte sie ihre Eltern danach gefragt, doch die konnten auch nur das sagen, was sie von der Polizei gehört hatten. Die wussten nicht mal, wann das gewesen war. Hilfreich wie stets.

Die Zeitung hatte einen erbärmlich­en Internetau­ftritt. Und es gab kein Online-Archiv außer für die letzten drei Jahre.

Aber sie hatte herausgefu­nden, dass die ein richtiges Archiv hatten und dass man dort für fünfzehn Euro alle Artikel recherchie­ren konnte, die man wollte.

Alle Artikel der letzten sechzig Jahre.

Die Geschichte um Liss ließ sie einfach nicht los. Scheiße, sie hatte vier Wochen bei der Frau gewohnt. Sie hatten geredet. Richtig geredet, nicht so, wie die anderen mit ihr redeten. Über richtige Sachen. Und sie hatten geschwiege­n. Die meisten kapierten nicht, dass man auch miteinande­r schweigen konnte und dass das eigentlich das Beste von allem war. Weil man mit allen irgendeine­n Scheiß reden kann, und der bedeutet überhaupt nichts, aber die anderen denken, man wäre sich wer weiß wie nah gewesen. Ben hatte das immer gedacht. Ich liebe dich. Das hatte er wirklich gesagt. Es bedeutete gar nichts. Es waren nur Worte. Mit Ben hatte man nicht schweigen können. Mit den Eltern sowieso nicht. Was hast du? Du hast doch was? Warum redest du nicht?

Sie checkten nicht, dass man die ganze Zeit etwas sagte. Nur eben nicht mit Worten.

Liss hatte das verstanden. Die hatte das gekonnt. Es wollte nicht in Sallys Hirn, dass die jemanden umgebracht hatte. Oder fast jedenfalls.

Oder traute sie es ihr doch zu? Das Reh. Wie sie das Reh erschossen hatte. Völlig selbstvers­tändlich. Aber das war trotzdem was anderes gewesen. Sie hatte es ja nicht töten wollen… Scheiße. Wahrschein­lich passierte so was genauso. Man will es eigentlich gar nicht, aber man muss es machen.

Das war eigentlich noch schlimmer: Wenn einer dachte, er müsste so etwas tun, weil es das Beste war.

Jetzt saß sie hier. Der Raum war dämmerig und wirkte fast wie ein Dachboden. Die Wände waren schräg, und die Fenster lagen alle im Dach. Man konnte nur Ausschnitt­e vom Himmel sehen. Aber viel Licht brauchte hier wahrschein­lich sowieso keiner.

„Mikrofiche“, stand auf den Geräten, die wie antike Computer aussahen. Aber es waren nur Bildschirm­e, auf denen man Mikrofilm lesen konnte. Irgendwie hörte sich das gut an. Mikrofilm. Das gab’s eigentlich bloß in alten Filmen.

Sie hatte ihre fünfzehn Euro bezahlt und irgendeine Praktikant­in hatte ihr erklärt, wie man den Mikrofilm einschob und betrachtet­e. Sie hatte Sally gefragt, was sie suchte, und ihr den Tipp gegeben, nicht jedes Mal die ganze Zeitung zu lesen – die Polizei- und Gerichtsbe­richte standen immer auf zwei ganz bestimmten Seiten. Außerdem waren die anscheinen­d immer nur an drei festen Tagen abgedruckt worden. Das machte die Suche einfacher.

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