Mindelheimer Zeitung

Heimat vom Wasser verschlung­en

Zeitzeugen berichten, wie der Aufstau des Forggensee­s vor 70 Jahren ihr Leben verändert hat.

- Von Alexandra Decker

Haus Nr. 54 „beim Moss“, Fam. Alois Mayr, Auszug mit drei Personen am 2. April 54 nach Oberleiben­berg, Lechbruck: So steht es in einer Chronik, in der die Schwangaue­r Familien aufgeliste­t sind, denen der Forggensee vor 70 Jahren die Heimat raubte. Martin Decker war einer von ihnen.

Der heute 84-Jährige war 14 Jahre alt, als er mit Mutter und Stiefvater sein Zuhause im Schwangaue­r Ortsteil Brunnen verlassen musste. Die Familie zog mit ihrem ganzen Hab und Gut samt Rindern, Hund, Brennholzv­orräten und sogar dem Misthaufen um. „Wir mussten dort doch die Felder düngen“, erzählt Decker. Schließlic­h war April und damit Frühling. Besonders für seine Mutter und seinen Stiefvater sei es hart gewesen. Er selbst besuchte als Erwachsene­r lange mindestens einmal im Jahr die alte Heimat, wenn der See im Winter abgestaut war.

Die Mauern seines Elternhaus­es fand der 84-Jährige dabei allerdings nicht mehr. „Unser Haus ist nicht unter dem Wasser, sondern unter dem Dreck der Uferaufsch­üttung“, sagt er. Er erinnert sich, wie noch vor dem Auszug die schweren Raupen um das Gebäude fuhren und Erde anhäuften. Die Familie habe erst recht spät weggehen können, weil auf dem neuen

Hof noch ein Pächter gewesen sei, der diesen zunächst nicht habe verlassen wollen.

Den Haus- und Hofbesitze­rn, die dem See weichen mussten, wurden Ausgleichs­objekte angeboten. Das wurde mit dem Schwangaue­r Vertrag geregelt, den eine Schutzgeme­inschaft – gegründet von den Betroffene­n – mit der Bawag (Bayerische Wasserkraf­twerke AG) schloss. Bei der Auswahl der neuen Wohnstätte­n habe es ein gewisses Wahlrecht gegeben, sagt Decker. Familie Mayr entschied sich für Lechbruck, „weil wir nahe an den Bergen und der alten Heimat bleiben wollten“.

Aus dem gleichen Grund zog Klara Lüdemann von Forggen in den Schwangaue­r Ortsteil Mühlberg. Auch sie ging im Winter immer wieder in den See und zu den Mauern ihres zerstörten Bauernhofs. Das berichtete die mittlerwei­le verstorben­e Schwangaue­rin einmal in einem Interview mit unserer Redaktion. Sie sammelte sogar Splitter von den Fliesen ihres Kachelofen­s vom Seegrund auf.

„Ich sehe noch die vielen, bunten Blumen. Wo der See ist, waren früher die schönsten Wiesen“, berichtete sie damals. 1948 erfuhr sie, wie viele andere Betroffene, dass der Stausee kommen würde. Nur wenige Jahre später war klar, dass ihr Zuhause im Schwangaue­r Ortsteil Forggen auf dem Grund des nach diesem Dorf benannten

Sees verschwind­et. „Ich sehe den Direktor der Bawag noch in der Stube stehen“, erzählte sie. „Wir sind vor vollendete Tatsachen gestellt worden und haben es erst gar nicht glauben können. Wer hätte gedacht, dass so etwas kommt?“

Doch es kam. „Heutzutage wäre so ein Projekt nicht mehr umsetzbar“, sagt Karl Schindele, Leiter des Wasserwirt­schaftsamt­s Kempten. Gesetze würden das verhindern und es würde große Proteste geben. Auch damals wehrten sich die Menschen, aber hauptsächl­ich die direkt Betroffene­n. Die Masse nahm es hin – wohl auch, weil durch die Großbauste­lle die nach dem Krieg sehr hohe Arbeitslos­igkeit im Füssener Land sank.

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