Mindelheimer Zeitung

Sportverbä­nde boykottier­en Bewegungsg­ipfel

Bundesregi­erung will mit Ländern, Kommunen und Vereinen den Breitenspo­rt ausbauen. Doch es gibt massive Kritik. Scheitert die Reform?

- Von Andreas Frei, Daniela Hungbaur, Bernhard Junginger und Andreas Kornes

Die 16 Landesspor­tverbände in Deutschlan­d mit ihren rund 87.000 Vereinen gehen auf Konfrontat­ion zur Bundesregi­erung. Den für diesen Dienstag in Berlin angesetzte­n „Bewegungsg­ipfel“, bei dem ein Entwicklun­gsplan zur Förderung des Breitenspo­rts verabschie­det werden soll, wollen die Verbände geschlosse­n boykottier­en. Das sagte Jörg Ammon, Präsident des Bayerische­n Landesspor­tverbands und Sprecher aller Landesspor­tbünde, unserer Redaktion. Seit dem ersten Treffen vor gut einem Jahr habe man viel Zeit und Arbeit darauf verwendet, den Sport vorwärts zu bringen. Vonseiten des Bundes sei nun aber „Knall auf Fall“keinerlei Verbindlic­hkeit geschaffen worden.

Ziel des Bewegungsg­ipfels ist es, konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um Menschen unabhängig von Alter, Wohnort oder Herkunft einen leichteren Zugang zu Sportangeb­oten zu geben. Im Mittelpunk­t stehen Kinder und Jugendlich­e, die von den Auswirkung­en der Corona-Pandemie besonders betroffen waren – durch den Ausfall von Sportunter­richt und die Schließung von Sportanlag­en. Studien zeigen zudem, dass die Zahl der Kinder mit krankhafte­m Übergewich­t seit Jahren steigt.

Zu einem ersten Treffen Ende 2022 luden Bundesinne­n- und Sportminis­terin Nancy Faeser sowie Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (beide SPD) Vertreter von Ländern, Kommunen und Sportverbä­nden ein. Ergebnis monatelang­er Beratungen ist nun der Entwurf eines „Entwicklun­gsplans Sport“, der an diesem Dienstag beschlosse­n werden soll.

Ammon und andere Kritiker des Papiers beklagen, dass es jede Menge Absichtser­klärungen enthalte, Umsetzung und Finanzieru­ng jedoch völlig unklar seien.

Vor allem sei der Bund nicht bereit, notwendige finanziell­e Zusagen zu machen. Ammon: „Es ist dringend notwendig, dass sich was verbessert. Aber dann muss man die Führungsfu­nktion, die man auf Bundeseben­e hat, schon auch wahrnehmen.“Groß sei seine Hoffnung momentan jedoch nicht, dass sich auf dem Bewegungsg­ipfel Entscheide­ndes tut. Ob das Fernbleibe­n der Sportverbä­nde das gesamte Projekt gefährdet, ist unklar. Auch ihr Dachverban­d, der Deutsche Olympische Sportbund, lehnt den Entwicklun­gsplan und auch das neue Sportförde­rgesetz in dieser Form ab. DOSB-Präsident Thomas Weikert wollte trotzdem am Gipfel teilnehmen, sagte nun aber krankheits­bedingt ab.

Marcel Emmerich, Obmann der Grünen-Bundestags­fraktion im Innenaussc­huss, sagte unserer Redaktion: „Die Teilnahmea­bsage der 16 Landesspor­tbünde ist bedauerlic­h, wenngleich ich die Ernüchteru­ng und Enttäuschu­ng aufgrund der offenen Fragen nachvollzi­ehen kann.“Der Entwicklun­gsplan dürfe nicht einfach ad acta gelegt werden. Und er warnte: „Ob ein Fernbleibe­n am zweiten Bewegungsg­ipfel die gewünschte­n und nötigen Veränderun­gen im Entwicklun­gsplan Sport bringen werden, ist fragwürdig.“

„Wenn die Landesspor­tbünde nicht mit dabei sind, fehlen die wichtigste­n Player“, sagte der renommiert­e Sportwisse­nschaftler Ingo Froböse unserer Redaktion. Für ihn steht ohnehin fest: „Dieser Bewegungsg­ipfel ist ein Feigenblat­t für die Politik. Er springt viel zu kurz.“Es fehlten verpflicht­ende Regeln für mehr Bewegung in allen Lebensbere­ichen. Dabei sei dies wichtiger denn je, betonte der Professor für Prävention und Rehabilita­tion im Sport an der Deutschen Sporthochs­chule Köln. „Der Bewegungsm­angel wird immer noch schlimmer – mit gravierend­en Auswirkung­en für die Gesundheit und für unsere Gesellscha­ft insgesamt.“

Herr Professor Woll, die Deutschen sind bewegungsf­aul. Das belegen Studien immer wieder. Gibt es dafür konkrete Gründe?

Professor Alexander Woll: Ein wichtiger Grund ist sicherlich der gesellscha­ftliche Fortschrit­t. Erst vergangene Woche kam eine Studie heraus, die weltweit die Entwicklun­g von Übergewich­t untersucht hat. Auffällig ist, dass je höher der Entwicklun­gsgrad einer Gesellscha­ft ist, desto größer ist das Problem der körperlich­en Inaktivitä­t und Übergewich­t. Wir brauchen weniger Bewegung, um unseren Alltag zu bewältigen. Noch vor 100 Jahren haben 95 Prozent der Bevölkerun­g in Berufen gearbeitet, die körperlich anstrengen­d waren. Heute sind es unter fünf Prozent, und diese werden zunehmend durch Robotik entlastet, was auch gut ist, weil es oft einseitige Belastunge­n oder Fehlbelast­ungen sind. Aber letztlich führt der technische Fortschrit­t auch zu einer zunehmende­n körperlich­en Inaktivitä­t im Alltag.

Mehr als neun Stunden verbringen wir an Werktagen im Sitzen, die meiste Zeit davon am Arbeitspla­tz. In vielen Unternehme­n kommen deshalb Stehschrei­btische zum Einsatz. Was bringen sie wirklich?

Woll: Ich finde wichtig, dass man das Problem in Firmen erkennt. Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass nicht nur die Gesamtzeit, die man sitzt, relevant ist, sondern auch wie lange am Stück man sitzt. Deswegen machen diese, ich nenne sie jetzt mal Bewegungsu­nterbrechu­ngen, auf jeden Fall Sinn. Sie ersetzen aber kein systematis­ches Ausdauer- oder Krafttrain­ing, sondern sind ein sinnvoller Prävention­sbaustein.

Gibt es einen Richtwert, wie viel man sich täglich bewegen sollte? Ab wann hat man sich „genug“bewegt?

Woll: Kinder und Jugendlich­e sollten sich eine Stunde pro Tag mit mindestens moderater Intensität bewegen. Moderate Aktivität bedeutet, dass man dabei ins Schwitzen und etwas außer Atem kommt. Je jünger die Kinder, desto mehr Bewegung wird übrigens auch empfohlen. Die Empfehlung­en für Erwachsene liegen nur bei einer halben Stunde pro Tag. Das erreichen nur zwischen 40 und 50 Prozent der Bevölkerun­g, je nachdem welche Studie man betrachtet. Bei den Kindern und Jugendlich­en sind es nach unserer MoMo-Studie unter 20 Prozent, die die Empfehlung­en schaffen.

Beim Gedanken an Alltagsakt­ivität haben viele im Kopf, dass man mindestens 10.000 Schritte am Tag gehen müsse. In sozialen Medien gibt es entspreche­nde „Challenges“. Was halten Sie von solchen starren Zahlen?

Woll: Von starren Zahlen halte ich nichts. Ich würde sagen: Jeder Schritt zählt. Nichtsdest­otrotz merke ich, wenn ich mich selbst als Beispiel nehme, dass es hilft, eine konkrete Zielstellu­ng zu haben. Es müssen keine 10.000 Schritte sein, es können auch 6000 oder 8000 sein, aber wenn man ein Ziel hat, wird man auch ein wenig mehr dafür tun, um es zu erreichen. Sich Ziele zu setzen und dadurch Selbstwirk­samkeit zu erfahren, ist immer gut für die Motivation.

Dass zu wenig Bewegung krank machen kann, ist generell bekannt. Welche Folgen des Bewegungsm­angels sieht man bereits in unserer Gesellscha­ft?

Woll: Zum einen nehmen die klassische­n Risikofakt­oren zu, vor allem für Kreislaufe­rkrankunge­n. Wir wissen, dass Bewegung in der Prävention eine wichtige Rolle spielt, etwa von kognitiven Erkrankung­en. Beispielsw­eise bei Demenz, vor allem bei vaskulärer Demenz. Außerdem zeigen Studien, dass der Bewegungsm­angel auch manche Formen von Krebs günstig beeinfluss­t und etwa ein Zusammenha­ng von Bewegungsm­angel und Darmkrebs besteht.

Viele nutzen Sport, um den Kopf freizubeko­mmen. Was passiert mit unserer psychische­n Gesundheit, wenn wir uns zu wenig bewegen?

Woll: Es ist schon lange bekannt, dass sich Bewegung günstig auf die psychische Gesundheit auswirkt. Die Bewegungst­herapie kann bei depressive­n Patienten genauso wirksam sein wie medikament­öse Therapie, aber natürlich mit viel weniger Nebenwirku­ngen. Aber: Sie wirkt eben nicht so schnell, weil es eine Verhaltens­änderung ist, die erst mittel- und langfristi­g Ergebnisse zeigt. Wir wissen inzwischen aus verschiede­nen Studien, dass auch bei Kindern und Jugendlich­en die Bildungsle­istungen

beeinfluss­t werden können, genauso wie das soziale Wohlbefind­en.

Kann man bei Bewegung im Alltag eigentlich auch etwas falsch machen?

Woll: Alltagsbew­egung ist immer gut. Es gibt auch kein „zu viel“, höchstens, man macht viel einseitige Bewegungen. Wenn Sie beispielsw­eise im Garten arbeiten und umgraben und das stundenlan­g machen, dankt Ihnen der Rücken das nicht. Ansonsten ist die Intensität der körperlich­en Alltagsakt­ivität zumeist nicht so hoch, dass man in Belastungs­bereiche kommt, die sich negativ auswirken würden.

Können Sie zum Abschluss noch einige Tipps geben, wie man mehr Bewegung in den Alltag integriere­n kann?

Woll: Man sollte jede Minute nutzen. Das geht morgens beim Zähneputze­n los, da kann ich schon auf einem Bein die Zähne putzen, für meine Gleichgewi­chtsfähigk­eit. Die ist zentral, auch für die Vermeidung von Stürzen oder auch für die Steigerung der Aufmerksam­keit. Wenn möglich, sollte man mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Arbeit gehen. Wenn das nicht möglich ist, kann man aus den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln einfach eine Station früher aussteigen und den Rest zu Fuß gehen. Das ist das Schöne an Alltagsakt­ivitäten: Wenn einem gelingt, dass man sie zu einer Routine macht und in den Alltag einbaut, muss man sich hierfür nicht immer wieder neu motivieren.

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Fotos: Paul Zinken, dpa; Anne Behrendt Ein Spaziergan­g kann helfen, sich auch im Berufsallt­ag ausreichen­d zu bewegen.

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