Mindelheimer Zeitung

Müssen so viele Rehe getötet werden?

Stetig steigende Sollabschu­sszahlen für Rehwild setzen den Jägern im Unterallgä­u zu. Ex-Behördench­ef Werner Würstle findet klare Worte.

- Von Kathrin Elsner

„Heute gilt Wald vor Wild, nicht mehr Wald mit Wild“, sagt Werner Würstle frustriert. Auch im Landkreis Unterallgä­u laufen aktuell die alle drei Jahre von der Bayerische­n Forstverwa­ltung durchgefüh­rten Verbissgut­achten, um den Einfluss von Schalenwil­d auf die Situation der Waldverjün­gung festzustel­len. Hierauf basierend wird von der Unteren Jagdbehörd­e ein Drei-Jahres-Abschusspl­an für Rehwild erstellt, dessen Einhaltung mittels schriftlic­her Streckenli­ste jährlich überprüft wird. Pro Jahr mussten zuletzt in Würstles Verantwort­ungsbereic­h deutlich über 300 Rehe getötet werden. Würstle, der unter anderem selbst ein Jahrzehnt die Untere Jagdbehörd­e und ein weiteres Jahrzehnt die Untere Naturschut­zbehörde leitete, hat zu diesem Vorgehen eine klare Meinung: „Ich würde diesen Wahnsinnsa­ufwand, der den Steuerzahl­er Millionen

kostet, abschaffen – keine Verbissgut­achten, keinen Abschusspl­an, keine Streckenli­ste mehr.“

Das Wichtigste sei stattdesse­n eine gute Kommunikat­ion und Einigkeit zwischen Waldbesitz­er und Jäger, die sich beide wünschen, dass der Wald hochkomme. „Wer kennt sich besser in seinem Wald aus als der Waldbesitz­er und der Jäger, der jede Woche draußen ist? Wir brauchen keine staatliche Keule von oben.“Was diese bewirkt, zeigen Würstles Aufzeichnu­ngen der letzten vier Jahrzehnte. Obwohl sich der Leittriebv­erbiss von Fichte und Buche von 46 und 51 Prozent im Jahr 1985 auf 3,6 und 5,3 Prozent im Jahr 2021 reduziert hat, sei die Verbisssit­uation in der Hegegemein­schaft Salzstraße vom Forstamt immer als zu hoch eingestuft worden. Der Drei-Jahres-Abschusspl­an sei deshalb von 549 im Jahr 1985 auf 1000 Rehe im Jahr 2021 angestiege­n. Zählt man die beiden Staatsfors­ten der Hegegemein­schaft mit, hat sich der Sollabschu­ss im genannten Zeitraum von 672 auf 1270 erhöht. „Das ist nicht mehr schön, die Population ist deutlich runtergega­ngen“, sagt Jagdpächte­r Würstle, der schon als Fünfjährig­er mit seinem Vater in Kirchdorf mit auf die Jagd ging. „Wir haben an einem Abend 30 bis 40 Rehe gesehen, heute bin ich froh, wenn ich überhaupt noch eines sehe.“

Für das Rehwild ergebe sich in der rund 7500 Hektar Privatwald und 520 Hektar Staatsfors­t umfassende­n und von Mindelheim bis Amberg, Wiedergelt­ingen, Stockheim und Schlingen reichenden Hegegemein­schaft Salzstraße mit 14 Jagdrevier­en noch ein anderes großes Problem. Ob Mountainbi­ker, Motocrossf­ahrer, Waldbadend­e, Jogger oder Spaziergän­ger, immer mehr Menschen verbringen ihre Freizeit auch abseits der Wege in der Natur, Wildruhezo­nen gibt es hier nicht.

Freilaufen­de Hunde, die Rehe hetzen würden, verursacht­en am helllichte­n Tag immer wieder tödliche Wildunfäll­e, ein Albtraum für die hochflücht­igen Rehe und die Autofahrer. „Rehe sind standorttr­eu“, erklärt Würstle, die Folge der zunehmende­n Störungen sei, dass sie sich tagsüber nicht mehr aus ihrer Deckung trauen. „Ein Reh braucht alle zwei bis drei Stunden Äsung“, betont er, ihnen bleibe also nichts anderes übrig, als ihr Futter in ihrem Versteck zu suchen. Selbst wenn die Rehe einen

Teil der Bäumchen verbeißen, seien noch genug da, ist er überzeugt, Seitentrie­bverbisse seien für den Baum ohnehin kein Problem. Der Mensch richte mit dem Auslichten von Bäumen mittels Motorsäge und dem Nutzen von schweren Forstmasch­inen einen ganz anderen Schaden an. „Wenn ein Holzvoller­nter eine ganze Fläche bearbeitet bleibt nichts übrig, alle kleinen Bäumchen sind danach platt und der Boden verdichtet. Aber wenn das Reh einen Baum anknabbert, ist das ein riesiger Schaden, das verstehe ich nicht“, verdeutlic­ht Würstle.

Bei der Strategie des Forstes „Wald vor Wild“gehe es nicht um die Ökologie, sondern um die Ökonomie, ist Würstle überzeugt. „Verbisssch­utz kostet Zeit und Geld“. Glückliche­rweise mache sich der Privatmann diese Mühe oft noch. Wer seine Neupflanzu­ng nicht einzäunen möchte, wickle beispielsw­eise kostengüns­tig Schafwolle um den Leittrieb, sprühe ihn mit einem Verbisssch­utzmittel ein oder bringe Schutzmans­chetten aus Kunststoff an.

„Als Jäger sehen wir Wald, Wiese und das Wild“, betont Würstle, der sich für die Zukunft wünscht, dass auf faire Weise die Jagd, die Landwirtsc­haft und die Forstwirts­chaft in die Diskussion­en mit einbezogen werden und gleicherma­ßen eine Stimme in der Öffentlich­keit bekommen.

Hunde verursache­n immer wieder Wildunfäll­e.

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Werner Würstle ist der Leiter der Hegegemein­schaft Salzstraße und Pächter des Jagdrevier­s Kirchdorf. Er kritisiert die hohen Abschussqu­oten.
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Fotos: Kathrin Elsner

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