Müssen so viele Rehe getötet werden?
Stetig steigende Sollabschusszahlen für Rehwild setzen den Jägern im Unterallgäu zu. Ex-Behördenchef Werner Würstle findet klare Worte.
„Heute gilt Wald vor Wild, nicht mehr Wald mit Wild“, sagt Werner Würstle frustriert. Auch im Landkreis Unterallgäu laufen aktuell die alle drei Jahre von der Bayerischen Forstverwaltung durchgeführten Verbissgutachten, um den Einfluss von Schalenwild auf die Situation der Waldverjüngung festzustellen. Hierauf basierend wird von der Unteren Jagdbehörde ein Drei-Jahres-Abschussplan für Rehwild erstellt, dessen Einhaltung mittels schriftlicher Streckenliste jährlich überprüft wird. Pro Jahr mussten zuletzt in Würstles Verantwortungsbereich deutlich über 300 Rehe getötet werden. Würstle, der unter anderem selbst ein Jahrzehnt die Untere Jagdbehörde und ein weiteres Jahrzehnt die Untere Naturschutzbehörde leitete, hat zu diesem Vorgehen eine klare Meinung: „Ich würde diesen Wahnsinnsaufwand, der den Steuerzahler Millionen
kostet, abschaffen – keine Verbissgutachten, keinen Abschussplan, keine Streckenliste mehr.“
Das Wichtigste sei stattdessen eine gute Kommunikation und Einigkeit zwischen Waldbesitzer und Jäger, die sich beide wünschen, dass der Wald hochkomme. „Wer kennt sich besser in seinem Wald aus als der Waldbesitzer und der Jäger, der jede Woche draußen ist? Wir brauchen keine staatliche Keule von oben.“Was diese bewirkt, zeigen Würstles Aufzeichnungen der letzten vier Jahrzehnte. Obwohl sich der Leittriebverbiss von Fichte und Buche von 46 und 51 Prozent im Jahr 1985 auf 3,6 und 5,3 Prozent im Jahr 2021 reduziert hat, sei die Verbisssituation in der Hegegemeinschaft Salzstraße vom Forstamt immer als zu hoch eingestuft worden. Der Drei-Jahres-Abschussplan sei deshalb von 549 im Jahr 1985 auf 1000 Rehe im Jahr 2021 angestiegen. Zählt man die beiden Staatsforsten der Hegegemeinschaft mit, hat sich der Sollabschuss im genannten Zeitraum von 672 auf 1270 erhöht. „Das ist nicht mehr schön, die Population ist deutlich runtergegangen“, sagt Jagdpächter Würstle, der schon als Fünfjähriger mit seinem Vater in Kirchdorf mit auf die Jagd ging. „Wir haben an einem Abend 30 bis 40 Rehe gesehen, heute bin ich froh, wenn ich überhaupt noch eines sehe.“
Für das Rehwild ergebe sich in der rund 7500 Hektar Privatwald und 520 Hektar Staatsforst umfassenden und von Mindelheim bis Amberg, Wiedergeltingen, Stockheim und Schlingen reichenden Hegegemeinschaft Salzstraße mit 14 Jagdrevieren noch ein anderes großes Problem. Ob Mountainbiker, Motocrossfahrer, Waldbadende, Jogger oder Spaziergänger, immer mehr Menschen verbringen ihre Freizeit auch abseits der Wege in der Natur, Wildruhezonen gibt es hier nicht.
Freilaufende Hunde, die Rehe hetzen würden, verursachten am helllichten Tag immer wieder tödliche Wildunfälle, ein Albtraum für die hochflüchtigen Rehe und die Autofahrer. „Rehe sind standorttreu“, erklärt Würstle, die Folge der zunehmenden Störungen sei, dass sie sich tagsüber nicht mehr aus ihrer Deckung trauen. „Ein Reh braucht alle zwei bis drei Stunden Äsung“, betont er, ihnen bleibe also nichts anderes übrig, als ihr Futter in ihrem Versteck zu suchen. Selbst wenn die Rehe einen
Teil der Bäumchen verbeißen, seien noch genug da, ist er überzeugt, Seitentriebverbisse seien für den Baum ohnehin kein Problem. Der Mensch richte mit dem Auslichten von Bäumen mittels Motorsäge und dem Nutzen von schweren Forstmaschinen einen ganz anderen Schaden an. „Wenn ein Holzvollernter eine ganze Fläche bearbeitet bleibt nichts übrig, alle kleinen Bäumchen sind danach platt und der Boden verdichtet. Aber wenn das Reh einen Baum anknabbert, ist das ein riesiger Schaden, das verstehe ich nicht“, verdeutlicht Würstle.
Bei der Strategie des Forstes „Wald vor Wild“gehe es nicht um die Ökologie, sondern um die Ökonomie, ist Würstle überzeugt. „Verbissschutz kostet Zeit und Geld“. Glücklicherweise mache sich der Privatmann diese Mühe oft noch. Wer seine Neupflanzung nicht einzäunen möchte, wickle beispielsweise kostengünstig Schafwolle um den Leittrieb, sprühe ihn mit einem Verbissschutzmittel ein oder bringe Schutzmanschetten aus Kunststoff an.
„Als Jäger sehen wir Wald, Wiese und das Wild“, betont Würstle, der sich für die Zukunft wünscht, dass auf faire Weise die Jagd, die Landwirtschaft und die Forstwirtschaft in die Diskussionen mit einbezogen werden und gleichermaßen eine Stimme in der Öffentlichkeit bekommen.
Hunde verursachen immer wieder Wildunfälle.