Mindelheimer Zeitung

Im Schatten des schönen Scheins

Kanzler Olaf Scholz lebt in Potsdam, Außenminis­terin Annalena Baerbock auch und dazu viele Millionäre. Doch es gibt auch die arme Seite der Stadt. Ein Besuch zwischen Plattenbau­ten und Pappschale­n voller Luxus.

-

Von Bernhard Junginger

Erdbeeren verkaufen sich gerade noch nicht so gut in den Supermärkt­en und Bioläden der Stadt, in der einige der bekanntest­en Deutschen wohnen. Moderator Günther Jauch etwa nennt eine Villa am See in Potsdam sein Eigen. Bundeskanz­ler Olaf Scholz mietet ein Apartment am prächtig sanierten Alten Markt, gleich neben dem berühmten Museum Barberini. Das wiederum der ebenfalls ortsansäss­ige SAP-Milliardär Hasso Plattner mit Millionens­penden möglich gemacht hat. Außenminis­terin Annalena Baerbock lebt ebenso in Potsdam wie Modeschöpf­er Wolfgang Joop oder Springer-Vorstandsv­orsitzende­r Mathias Döpfner. An den Ufern der Seenlandsc­haft der Havel wechseln sich denkmalges­chützte Prachtanwe­sen mit kühnmodern­en Architekte­nfantasien ab.

Doch die brandenbur­gische Hauptstadt mit ihren rund 180.000 Einwohnern gleicht einer Münze, bei der nur die eine Seite auf Hochglanz poliert ist, während an der anderen der Rost frisst. Jenseits der Havel beginnt nach wenigen Busstation­en die Trostlosig­keit von Plattenbau­ten und ausgedehnt­en Waschbeton-Mietskaser­nen.

Für viele Menschen in Stadtteile­n wie Schlaatz oder Waldstadt ist eine Pappschale mit Erdbeeren ein Luxus, der selten drin ist. Gerade Familien mit Kindern oder alte Menschen mit niedrigen Renten sind auf die Unterstütz­ung der Potsdamer Tafel angewiesen, um überhaupt satt zu werden. Deren ehrenamtli­che Helfer retten bei den örtlichen Geschäften Lebensmitt­el vor dem Müllcontai­ner, die sich nicht mehr verkaufen lassen, etwa weil das Ablaufdatu­m naht.

„Heute ist Erdbeertag“, sagt Imke Georgiew, die Leiterin der Einrichtun­g in einem angejahrte­n Flachbau aus Betonferti­gteilen. So viele Packungen kämen selten. Gerade ist der weiße Kühl-Kleinlaste­r des „Hol-Teams“vor dem Hintereing­ang eingetroff­en und hat mehrere Paletten ausgeladen. In den engen Räumen verteilen die Freiwillig­en des „Pack-Teams“die Ware möglichst gleichmäßi­g in schwarze Kisten. Milch, Karotten, Bananen mit ersten braunen Punkten, ein Zwölfer-Karton Eier, Nudeln, eine Flasche mit Grillsoße – was drin ist, unterschei­det sich von Mal zu Mal. Doch für die Bedürftige­n sind die wöchentlic­hen Lebensmitt­elspenden eine riesige Entlastung. Etliche ältere Leute in Elektrorol­lstühlen oder mit Rollatoren warten schon Stunden vor Beginn der Ausgabe vor dem Eingang. Immer mehr Bedürftige hoffen im reichen Potsdam auf die Tafel, darunter zahlreiche Flüchtling­e, so viele, dass die Einrichtun­g sogar einen Aufnahmest­opp verhängen musste.

Georgiew, 56, ist sauer auf die Politik und auf Olaf Scholz ganz besonders. Obwohl ihr Herz eigentlich für die SPD schlägt. Als ihr Mit-Potsdamer noch nicht Kanzler, sondern erst Kanzlerkan­didat war, habe sein Team gefragt, ob er die Tafel besuchen könne. Damals habe sie noch für die SPD Stadtpolit­ik gemacht und zugesagt – unter der Bedingung, dass keine Fernsehkam­eras dabei sind und über den Termin nicht berichtet wird. Die TafelKunde­n sollten keine Statisten für einen typischen Wahlkampf-Auftritt sein. „Nach der kurzen Visite landete halt doch so ein plumper Werbefilm im Internet. Das hat mich so geärgert, dass ich aus der SPD ausgetrete­n bin“, sagt Georgiew. Das Video aus dem Herbst 2021 ist noch heute abrufbar, zeigt den damaligen Kanzlerkan­didaten in orangefarb­ener Schürze mit einer Sackkarre. Dazu werden Sätze eingeblend­et wie „Ich durfte ordentlich mit anpacken“oder „Wir haben gemeinsam Lebensmitt­el sortiert“.

Georgiew würde sich von der Politik lieber echte Unterstütz­ung wünschen. Sie findet, die Tafeln würden alleingela­ssen mit den Auswirkung­en der Entscheidu­ngen der Regierung. Die Hilfe der Freiwillig­en-Organisati­onen werde viel zu selbstvers­tändlich vorausgese­tzt, bei der Aufnahme von Flüchtling­en etwa quasi „eingepreis­t“, um staatliche Ressourcen zu sparen. Doch das drohe die Helfer zu überlasten. Immerhin, das Aufkommen an Spenden sei stabil. Es seien übrigens nicht die örtlichen Prominente­n, die viel spendeten: „Sondern ganz viele, ganz normale Potsdamer, die den Laden mit kleineren Beträgen am Laufen halten.“

Die Tafeln glichen „Seismograf­en der sozialen Lage“, sagt Georgiew. Und sie merke, dass es bei immer mehr Menschen etwa durch Inflation und Energiepre­is-Explosion „hinten und vorne nicht mehr reicht“. Zunehmend müssten Leute, die sich noch vor Kurzem zur gesellscha­ftlichen Mitte gezählt hätten, um Lebensmitt­elspenden bitten. Hinzu kämen immer mehr Geflüchtet­e, für die zu wenig Unterkünft­e da seien. In Potsdam herrsche seit Jahren Wohnungsno­t und die Mieten seien für viele kaum mehr zu bezahlen. Das sorge für Frust, Neid, Verbitteru­ng und am Ende für Zulauf für die AfD.

Wie tief extrem rechte und fremdenfei­ndliche Positionen inzwischen in die Stadtgesel­lschaft eingesicke­rt seien, das merke sie gerade bei der Suche nach einem neuen Standort für die aus allen Nähten platzenden Tafel-Räume. Einen halben Kilometer entfernt habe die Stadt Potsdam auf einem eigenen Grundstück Wohnungen etwa für von Obdachlosi­gkeit bedrohte oder psychisch kranke Menschen geplant. Ins Erdgeschos­s sollte die Tafel einziehen, das sei schon fast in trockenen Tüchern gewesen.

Doch dann kam es zu einer Informatio­nsveransta­ltung mit den Anwohnern. „Was da an Hass und Lügen über die Tafel verbreitet wurde, hat mich völlig umgehauen“, sagt die Tafel-Chefin. Ein Beispiel: Die „angeblich Bedürftige­n“würden morgens mit teuren Luxusautos vorfahren. Georgiew: „Ich weiß genau, welche Autos gemeint sind – die von einigen unserer ehrenamtli­chen Unterstütz­er, die auch aus den wohlhabend­eren Schichten stammen. Sie kommen vormittags, die Tafel öffnet aber erst am Nachmittag.“

Gespendete Lebensmitt­el würden in den Abfalleime­rn in der Umgebung landen, lautete ein anderer Vorwurf. „Das stimmt“, sagt Georgiew knapp. Denn trotz aller Sorgfalt der Mitarbeite­r gelange manchmal eben doch ein verdorbene­s Produkt in die Taschen der Kunden. „Denen fällt das dann vielleicht auf, während sie auf den Bus warten, und dann werfen sie das natürlich in den Mülleimer.“

Mit Missverstä­ndnissen, aber auch gemeinen, vorsätzlic­hen Lügen über ihre Einrichtun­g habe sie in den vergangene­n Jahren viele Erfahrunge­n machen müssen, sagt sie. In der großen Flüchtling­swelle nach 2015 habe es wie an vielen anderen Tafeln Spannungen gegeben. Neuankömml­inge hätten gedrängelt, sich aggressiv verhalten, Rentner sich davor gefürchtet. Die Tafel in Essen geriet in die Schlagzeil­en, auch in Potsdam gab es Probleme, so Georgiew. „Wir merkten schnell, dass viele Flüchtling­e dachten, wir seien die staatliche Essensausg­abe. Und fürchteten, dass sie leer ausgehen, wenn sie sich nicht durchsetze­n.“Es sei dann gelungen, Syrer, Afghanen und Iraker, zuletzt auch einen Ukrainer, ins Team zu holen.

Insgesamt etwa 30 Flüchtling­e sind laut Imke Georgiew inzwischen Teil der circa 200-köpfigen Tafel-Truppe. „Sie erklären ihren Landsleute­n, dass es um gespendete Lebensmitt­el geht, die von Freiwillig­en verteilt werden. Seither gibt es kaum mehr Probleme.“Um die ständig wachsende Nachfrage zu bewältigen, bekommen die Kunden heute feste Termine zugewiesen und erhalten ein vorher zusammenge­stelltes Lebensmitt­elpaket. Trotzdem herrsche weiter Aufnahmest­opp. Denn in den jetzigen Räumen sei einfach nicht mehr möglich. Eine Lösung sei nicht in Sicht, denn nach der „furchtbare­n Info-Veranstalt­ung, bei der arme Leute als Abschaum der Menschheit und mögliche Massenmörd­er dargestell­t wurden“, sei der Bürgermeis­ter, auch ein SPDMann, eingeknick­t, so Georgiew. Die Stadt wolle die Neubauplän­e nun „überdenken“. Resigniert sagt sie: „Bald sind Kommunalwa­hlen und im Herbst Landtagswa­hlen.“Es sei erschrecke­nd, wie sehr die AfD inzwischen in vielen Bereichen den Ton angebe.

Am 22. September wird in Brandenbur­g ein neuer Landtag gewählt. Die SPD regiert seit 1990 mit wechselnde­n Partnern, derzeit mit CDU und Grünen. In den jüngsten Umfragen lag die AfD vorn. Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) hofft darauf, Wähler der AfD zurückgewi­nnen zu können. „Ich glaube fest daran, AfD-Wählerinne­n und -Wähler zurückzuho­len. Zumindest jene, die in den letzten Jahren von den demokratis­chen Parteien zur AfD gegangen sind“, sagte er zuletzt.

In Potsdam ist das Taxi gerade erst am historisch­en Nauener Tor losgefahre­n, da hat sich der kahlköpfig­e Fahrer schon in Rage geredet. In der DDR, da seien die Leute von den Politikern ja „nach Strich und Faden belogen“worden, zurück wolle er den Sozialismu­s natürlich nicht. „Aber“, sagt er dann sehr laut: Die Ampelkoali­tion in Berlin lüge heute auch. Er hoffe auf einen Sieg der AfD bei den Landtagswa­hlen im Herbst. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Enthüllung­en über das Geheimtref­fen rechtsextr­emer Kreise, bei dem laut dem Recherche-Netzwerk Correctiv ein „Masterplan zur Remigratio­n“diskutiert wurde – in einer Villa am Potsdamer Seeufer. Remigratio­n sei ja „dringend nötig“, so der Fahrer, der sagt, er sei 65 Jahre alt. Im Park vor dem Potsdamer Bahnhof etwa, schimpft er, da hausten Afrikaner und Araber. „Das hätte es zu DDR-Zeiten nicht gegeben.“

Der Taxifahrer hat recht. Im Park vor dem Bahnhof übernachte­n tatsächlic­h Menschen. Einer hat seine beiden bunten Kunstpelz-Decken gerade zum Lüften auf zwei Bänken ausgebreit­et. Nach eigenen Angaben ist er gebürtiger Ägypter, 75 Jahre alt und nach dem Tod seiner deutschen Frau in eine tiefe Krise geraten, einige Schicksals­schläge später auf der Straße gelandet. In geschliffe­nen, akademisch klingenden Sätzen erläutert er, dass er vor Jahren in Potsdam gelebt habe und nun hier sei, um mit den „hiesigen Behörden offene Fragen zu klären, die meine Rente betreffen“. Für sein Essen sammle er Pfandflasc­hen, doch ausgerechn­et in dieser reichen Stadt komme kaum etwas zusammen – zu viel Konkurrenz. In einer kalten Nacht vor ein paar Tagen sei er aufgeschre­ckt, als eine Bierflasch­e nur ein paar Zentimeter von seinem Kopf entfernt an der Lehne der Bank zerschellt­e. Gelächter und Schimpfwor­te habe er noch gehört aus einer Gruppe junger Männer, die ohne Eile weiterging. Auch glühende Zigaretten­kippen hätten sie nachts schon auf ihn geworfen, zum Glück sei er rechtzeiti­g aufgewacht, seine Decke aus Synthetik habe schon zu qualmen begonnen. Mehr offene Feindselig­keit als hier, in der Stadt der Prominente­n und Millionäre, habe er nirgends erlebt, sagt der Mann.

„Frische Erdbeeren? Ist ja wie Ostern und Weihnachte­n zusammen“, sagt die weißhaarig­e Frau in der beigefarbe­nen Steppjacke. Bei der Potsdamer Tafel in der Waldstadt ist der erste große Nachmittag­sansturm vorbei. Für viele ist der Abholtag so eine Art Insel in einem Meer von Einsamkeit. Ob sie auch wirklich zwei nehmen dürfe, fragt sie die junge Lehrerin, die jede Woche bei der Ausgabe mithilft. Als die ihr aufmuntern­d zunickt, bedankt sich die Rentnerin lächelnd. Und legt die beiden Packungen in ihren Einkaufstr­olley. Ganz behutsam. Damit bloß keine einzige der kostbaren roten Früchte zerdrückt wird.

Nicht die Prominente­n spendeten für die Tafel, sondern ganz viele ganz normale Leute.

Die AfD hat großen Zulauf und liegt in aktuellen Umfragen vor der regierende­n SPD.

 ?? Foto: Soeren Stache, dpa ?? In der „AWO-Schatztruh­e“, dem Sozialkauf­haus im Potsdamer Stadtteil Schlaatz, finden viele Einwohner günstige Kleidung und Lebensmitt­el. Hier wird der soziale Klassenunt­erschied sichtbar.
Foto: Soeren Stache, dpa In der „AWO-Schatztruh­e“, dem Sozialkauf­haus im Potsdamer Stadtteil Schlaatz, finden viele Einwohner günstige Kleidung und Lebensmitt­el. Hier wird der soziale Klassenunt­erschied sichtbar.
 ?? Foto: Bernhard Junginger ?? Imke Georgiew leitet die Tafel in Potsdam.
Foto: Bernhard Junginger Imke Georgiew leitet die Tafel in Potsdam.

Newspapers in German

Newspapers from Germany